Leseproben Sieben Schlüssel Saga

Anbei findet ihr Leseproben zu den Büchern der Sieben Schlüssel Saga.

BAND 1:

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Sieben Schlüssel – Das Erbe der Rebellen

Kapitel 1 – Die Entführung

Levin
Levin wachte auf. Sein Herz raste. Jemand war gerade in sein Haus eingebrochen. Geräuschlos stieg er aus dem Bett und bedeutete seiner Frau, still zu bleiben. Vorsichtig öffnete er die Holztür und schritt in den dunklen Flur hinaus. An der Wand lehnte seine Spitzhacke, mit der er in den Mienen am Kristallhang arbeitete. Er griff nach ihr und schlich nach vorne zum Treppenabsatz. Levin konnte den Wind draußen pfeifen hören und fühlen, wie die Kälte langsam in die Stube drang. Er umfasste den Griff der Hacke und hielt seinen Atem an. Dann ging er hinunter, um nach dem Einbrecher zu sehen. Die alten Holzdielen knarzten verräterisch unter seinen Füßen, was ihm den Schweiß auf seine Stirn trieb.

Die Tür lag aus den Angeln gerissen am Boden. Er hörte ein metallenes Rascheln, es folgte Stille. Dann rührte sich draußen etwas. Levin atmete tief durch und presste seine verschwitzten Finger um den Holzgriff der Spitzhacke. Vor ihn trat ein Mann, der Mitte zwanzig zu sein schien. Er trug kein Hemd obwohl harscher Winter das Erior Tal regierte. Unter seine Haut waren unzählige Muster gestochen, wie es bei Gefangenen üblich war. Über seine Schulter hatte der Fremde lässig einen kleinen Streitflegel geworfen. Mit einem bedrohlichen Grinsen im Gesicht stand er vor Levin, ehe er sich zum Tisch wandte. Er kippte einen Stuhl zur Seite und setzte sich. Unmittelbar verfinsterte sich die Miene des Fremden.

»Levin, bring mir sofort den Jungen. Es geht um Leben und Tod. Aber nicht um meines, sondern um unser aller«, sagte er kalt, sein Blick war noch finsterer geworden.
Levin wusste nicht was er sagen sollte, zu verwirrt war er von der Erscheinung des jungen Mannes. Noch nie hatte er eine Gestalt wie ihn gesehen. Doch irgendetwas an ihm wirkte bekannt, nahezu vertraut. Als Levin verstand, dass der Fremde seinen Sohn Henry mitnehmen wollte, ging er mit seiner Spitzhacke auf den Tätowierten los. Blitzschnell sprang dieser auf und presste den langen Holzgriff seines Streitflegels gegen den der Hacke. Die Spitze seiner Hacke bohrte sich beinahe in das Gesicht des Fremden. Dieser stieß einen Schrei aus und warf Levin über den Tisch. Ehe er aufstehen konnte, zertrümmerte der junge Mann den Tisch mit seinem Streitflegel. Levin blickte ehrfürchtig auf. Für den Jüngeren schien das ein Leichtes gewesen zu sein. Er stand Furcht gebietend da, in der Hand der lange Holzstab mit der zweigliedrigen Kette, an der die dornenbewehrte Kugel pendelte. Levin hatte noch nie um Leben und Tod kämpfen müssen. Erst recht nicht mit einem aggressiven Jüngling, der voller Tatendrang zu sein schien. Er schloss kurz die Augen und schluckte seine Angst hinunter.

»Schluss! Wenn du mir nicht hilfst, dein Kind in Sicherheit zu bringen, kommen andere Männer. Ausgesandt von einem religiösen Wahnsinnigen namens Salazar. Und die töten deinen Sohn«, sagte der Angreifer einschüchternd.
Seine Augen funkelten als er eine Stahldorne mit seinem Zeigefinger umkreiste. Langsam ging er einen Schritt auf Levin zu. Das Rascheln der Kette war ihm unbehaglich. Seine Hände zitterten, als er in die Augen des fremden Mannes sah. Ich bin doch nur ein Bergknappe. Levin fasste Mut und erhob seine Stimme, die Spitzhacke hielt er schützend vor seinem Körper.
»Du lügst!«, schrie er und machte mit breiter Brust einen Schritt auf den Einbrecher zu.
»Ich lüge nicht! Mein Name ist Ivar Hennes. Denk gut über diesen Namen nach, schau mir ins Gesicht und du wirst dich an mich erinnern«, antwortete sein Gegenüber und streckte ihm seinen Kopf entgegen.
Levin sah den Blonden misstrauisch an. Es traf ihn wie der Blitz.
»Ivar? Was wollen diese Männer?«

Er wusste nicht, ob er dem Mann trauen sollte, schließlich war er gebrandmarkt mit Mustern, die Sklaven und Gefangenen unter die Haut gestochen bekamen.
»Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen, sie sind bereits auf dem Weg«, sprach Ivar verärgert.
»Du wirst mir noch mehr erzählen müssen, damit ich dir Glauben schenke. Aber du siehst dem Ivar den ich einmal kannte durchaus ähnlich…«, gab Levin zu.
Er war ernsthaft verblüfft, als er in dem aufgebrachten Gesicht des Fremden die Züge jenes Burschen ausmachte, den er von früher zu kennen vermochte.
»Ich weiß, ich sehe wie ein Verbrecher für dich aus, aber ich bin gekommen um dich zu warnen. Wenn ich dein Kind entführen wollte, wärst du schon längst tot. Jetzt hol deine Familie«, sprach Ivar.

Er hatte dabei solch einen durchdringenden Blick, dass Levin ihm glaubte. Er stieg über die Trümmer des Tisches, die Spitzhacke mit festem Griff umschlungen und lief nach oben. Er rief seine Frau. Sie wartete zitternd hinter einer Ecke, blass vor Schreck. Sie hatte alles mitangehört. Sie traute dem Fremden nicht, doch Levin fürchtete sich vor der vermeintlichen Wahrheit, die sich hinter Ivars drängenden Worten verbarg.
»Ich werde unseren Sohn beschützen und wenn ich dabei sterbe«, sagte Levin entschlossen.
Yvette sah ihn besorgt an und legte ihre Hände auf sein Gesicht. Tränen flossen über ihre Wangen als sie ihn küsste. Er umarmte sie und dann gingen sie in das Zimmer des Kindes. Henry versteckte sich unter seinem Bett, eingehüllt in eine löchrige Decke. Levin holte ihn hervor und nahm ihn in die Arme.

Als sie die Stufen hinunter kamen, erwarteten sie drei weitere Männer. Alle waren in schwarz-rote Lederrüstungen gekleidet, auf denen ein rotes Emblem prangte. Ihre weinroten Umhänge wehten bedrohlich im Wind und boshafte Augen blitzten unter ihren Kapuzen hervor. Die Orte von drei Schwertern funkelten Levin entgegen. Seine Frau erschrak fürchterlich, als sie die Kerle erblickte. Er legte seinen Arm fest um sein Kind und stieg einige Stufen hoch. Ivar stellte sich den Dreien entgegen. Der kleine fette Mann mit der Rüstung trat nach vorn und schien Ivar gar nicht zu beachten.
»Rück den Jungen raus Bauerntölpel, dann lassen wir dich leben«, sagte er mit gleichgültigem Ton.

Henry weinte und zitterte an Levins Brust, seine kleinen Hände hatte er fest um seinen verschwitzten Hals geschlungen. Seine Frau nahm das Kind und lief nach oben.
»Was wollt ihr von meiner Familie? Verschwindet, ihr Pack!«, schrie Levin.
»Glaub mir, wir wissen alles über dich und dein jämmerliches Leben. Aber wir sind gnädig und erlösen dich gerne davon. Liegt dir jedoch etwas daran, dann übergibst du uns besser den Jungen. Dann wird dir und deiner lieben Yvette nichts passieren«, sagte einer der Eindringlinge scharf.
Er schmunzelte und machte noch einen Schritt auf Ivar zu, die beiden anderen Soldaten folgten ihm.

◆◆◆

Ivar
Ivar setzte sein typisches Grinsen auf. Er streckte seinen Streitflegel vor das Gesicht des Fettsacks. Die Kugel pendelte beängstigend und die Stahldornen glänzten im Feuerschein der Fackel, die einer der Soldaten hielt.
»Ihr Drei solltet euch lieber schleunigst aus dem Staub machen. Das könnte unschön werden, wenn ihr mich noch weiter reizt«, sagte Ivar höhnisch.
Er fuhr sich über den schmalen, silbernen Nasenring, der in seinem Nasenflügel steckte. Die Männer lachten. Ivar liebte es provoziert zu werden, es entfachte seine Entschlossenheit.
»Was will denn dieser halbnackte Kerl? Los jetzt Männer!«
Ivar zögerte nicht länger und ging zum Angriff über. Er attackierte den Vordersten mit einem linken Haken. Sie kämpften sich durch den Raum und Ivar landete einen weiteren Treffer im fetten Gesicht des Mannes, welcher daraufhin zur Tür hinaus fiel. Mit wackligen Beinen richtete er sich auf und wischte sich das Blut vom Kinn.

»Auf ein Tänzchen, mein Freund?«, rief Ivar und hechtete zur Tür.
»Jetzt hast du es dir verscherzt mein Lieber!«, rief der beleibte Soldat als er hereinkam.
Er packte Ivar am Kopf und schleuderte ihn nach draußen. Ivar rappelte sich auf. Er war unachtsam gewesen. Ich muss alles tun um den Jungen zu schützen. Es reicht ein guter Treffer um den Idioten schachmatt zu setzen, dachte er. Er konzentrierte sich und fixierte sein Gegenüber. Langsam schlichen sie im Kreis, jede Bewegung des Feindes im Auge. Der Fettsack schwenkte angeberisch sein Schwert. Er lachte, wodurch seine neu gewonnene Zahnlücke zum Vorschein kam. Ivar wich einen Schritt zurück, schwang seinen Streitflegel und hämmerte auf den Ausgesandten ein. Der Mann in der Lederrüstung wehrte die Kugel ab. In der Dunkelheit hatte er Ivars tatsächlichen Angriff übersehen. Er duckte sich und trat dem Soldaten die Beine weg. Ivar holte noch einmal schwungvoll aus und zertrümmerte den Oberschenkel des Soldaten. Der Mann schrie vor Schmerz, doch Ivar hatte keine Zeit für Mitgefühl. Er sammelte sich und rannte geschwind ins Haus um Levin beizustehen. Seine Spitzhacke brach gerade in Stücke, als Ivar in den Raum stürmte. Einer der Soldaten lehnte verletzt in einer Ecke, eine lange Blutspur zog sich an der Holzwand entlang. Der andere versuchte Levin zu töten.

Ivar nahm Anlauf, sprang auf einen Stuhl und rammte den Angreifer. Sie stürzten beide auf die Holzdielen. Ivar schwindelte, er versuchte auf die Beine zu kommen. Überraschend gingen die Kerzen im Raum aus, auch die Fackel erlosch. Eine Eiseskälte durchströmte die Stube und ein ohrenbetäubendes Donnern erschütterte das Tal. Einen Moment lang geschah garnichts, dann kehrte eine beunruhigende Stille ein und das Donnern verhallte. Selbst die Schreie des Verletzten wichen einem leisen Wimmern und verstummten schließlich. Draußen regte sich etwas, dann schlängelte sich eine langgezogene Rauchwolke in den Raum. Was bei den Alten Rebellen ist das? Ivar stand auf, nichtwissend was er tun sollte, geschweige denn was auf ihn zukam. Langsam kroch der Schatten durch den Raum, zittrig sah er aus als er sich auflöste und im ganzen Zimmer ausbreitete. Aus heiterem Himmel traf Ivar ein Schlag in die Seite. Er hustete angestrengt, seine Rippen schmerzten. Ich muss aufstehen und kämpfen! Den Schatten konnte er nicht mehr entdecken.

Blitzartig hörte er den Rauch vorbeirauschen, kurz danach einen schrecklichen Schrei. Levin! Der Schatten kroch aus Levins Körper, als er auf dem Boden aufschlug. Ivar tappte verwirrt in der Dunkelheit umher. Er hatte vor nichts und niemandem Angst, doch in diesem grauenvollen Moment änderte sich das schlagartig. Ein Kampf gegen etwas Unbekanntes, einen Schatten, stand ihm bevor. Noch nie hatte er Derartiges gesehen oder gefühlt. Eine unbeschreibliche Furcht kroch in ihm herauf, als sich das Wesen näherte. Seine Haut schien sich in Eis zu verwandeln, während ihm gleichzeitig der Schweiß in Perlen auf der Stirn stand. Sein Herz pochte wie wild und die Kette des Streitflegels rasselte in seinen zitternden Händen. Er riss sich zusammen.

Ivar konnte den Mann neben sich bemerken und schwang seinen Streitflegel. Er traf Holz und holte noch einmal aus. Er erwischte jemanden der daraufhin die Dielen küsste. Der Schatten war wiedergekehrt. Ivar nahm Stellung ein. Er konzentrierte sich auf seinen unförmigen Gegner, bereit ihm den Garaus zu machen. Gemächlich kroch der Schatten durch den Raum, zur Türe hin. Ruckartig schlug er Ivars Richtung ein und fuhr pfeilschnell durch seinen Körper. Ivar stürzte schmerzverzerrt in die Dunkelheit und blieb liegen. Er krümmte sich und all seine Muskeln verkrampften. Ivar rang nach Atem und zuckte, Speichel floss sein Kinn hinab. Seine Augen flackerten noch ein letztes Mal auf. Seine Gedanken waren bei dem Jungen, den er so dringend retten wollte.

 


BAND 2:

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Sieben Schlüssel – Geister der Vergangenheit

Kapitel 1 –Veränderungen

Ivar
Es war nun drei Tage her, dass Ivar Deas Schlüssel aus einem Lederumschlag genommen hatte. Sie hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen oder erwähnt, warum sie gegangen war. Lediglich ein Satz stand im Inneren des Umschlags geschrieben: Hüte sie gut. Jedes Mal wenn Ivar ihre Schlüssel in seinen Händen hielt, fühlten sie sich fremd an, als würden sie ihn abstoßen. Die Widerstandbewegung war im Aufruhr wegen Deas plötzlichem Verschwinden. Der neue Führer des Spähtrupps, Caer Alaris Eriathell, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu finden, war jedoch bis jetzt erfolglos gewesen.
Raye kam soeben als letzter in den Audienzsaal. Cayn hatte die Rebellen und Fiona einberufen, um die Lage zu besprechen.

»Warum habt Ihr mich so dringend hierher beordert? Ihr wisst doch alle, wie ich über die Sache denke«, sagte Raye mürrisch.
»Ich höre deine Meinung lieber aus deinem eigenen Mund, Raye«, entgegnete Cayn freundlich.
»Ich sagte es euch allen von Anfang an. Dea bringt nur Unheil über uns und ich vertraue ihr nicht. Und nun hat sie uns im Stich gelassen, die ehrenhafte Dea, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.«
Tyr schüttelte verständnislos den Kopf.
»Es ist unverantwortlich von ihr gewesen wortlos zu verschwinden, das stimmt. Aber sie macht eine Veränderung durch. Sie wurde gefangen genommen und es wurde etwas in ihr geweckt, das sie nie an sich selbst sehen wollte. Verstehst du nicht, sie wollte dem Licht dienen, doch die Schatten haben sie wieder eingeholt. Sie muss sich schrecklich fühlen«, sagte der Rhaenar.
»Wir alle machen Schreckliches durch, aber deswegen werfen wir nicht die Schlüssel weg und verschwinden einfach. Ihr könnt sie gerne zurückholen, dann sage ich ihr persönlich, was ich von ihr halte.«

»Rede nicht so über Dea. Wir werden sie finden und wenn nicht, bin ich sicher, dass sie zurückkehren wird«, sagte Ivar angespannt.
»Wenn sie nicht vorher dem gestörten Salazar Bürschchen in die Hände fällt und uns alle umbringt.«
Tyr brachte sich wieder ein.
»Daran lasst uns nicht denken. Wir müssen unsere Streitkräfte mobilisieren und uns gegen einen Angriff von Naerys wappnen. Laut Deas Aussagen ist Arbor geschwächt worden, als sie mit Nika entkam. Wenn wir angreifen wollen, dürfen wir ihm keine Zeit geben, sich zu regenerieren«, schlug er vor.

»Richtig. Caer Alaris und sein Trupp werden weiter nach Dea suchen. In der Zwischenzeit werden Caeres Fiona und ich einen Plan ausfassen, wie wir Arbor in die Knie zwingen. Wir könnten dabei gut Eure Hilfe gebrauchen, Rhaenar Tyr«, sagte Cayn. Er wandte sich wieder an Raye. »Raye, deine Familie wünscht Rache für den Tod deines Bruders. Wir alle hier wollen, dass sein Mörder seine gerechte Strafe erhält. Es liegt an dir. Wir brauchen die Unterstützung deiner Familie, wir brauchen ihr Gold und ihre Schwerter.«
Raye schnaubte verächtlich.

»Vergesst es. Ich brauche ihre Hilfe nicht. Sie würden nicht mir helfen, sie würden es nur für meinen toten Bruder tun. Robyn war zu stolz, um Hilfe zu erbitten. Ich werde nicht für seine Fehler bei meinem Vater angekrochen kommen.«
»Dein Stolz hält dich doch genauso davon ab! Sag mir, wann ist es dazu gekommen, dass Stolz und Ehre wichtiger sind, als die Leben von tausenden von Menschen? Stolz nützt uns nun nichts mehr. Dein Vater hat dreitausend Männer in seinem Heer, die Aergard dringend braucht. Wenn er sein persönliches Gefolge nicht aufgeben möchte, verstehe ich das. Doch dein Vater hat gute Beziehungen, er könnte…«
»Andere ach so reiche Lords überzeugen uns beizustehen? Glaubt Ihr tatsächlich, diese feinen Lords opfern ihre Männer für eine Sache, die sie einen feuchten Dreck interessiert? Sobald sie von den Deamar hören, werden sie uns nicht einmal einen Kupfer-Ara geben, sondern sich in ihren Burgen verschanzen und sich selbst von ihren Männern bewachen lassen. Seid nicht töricht, Caer Livian«, antwortete Raye abschätzig.

»Du lässt uns genauso im Stich wie Dea«, sagte Cayn enttäuscht.
Raye knurrte und verließ den Audienzsaal durch das Fenster. Cayn winkte Ivar und die anderen hinaus und verblieb mit Fiona, um eine Strategie für die kommenden Schlachten auszufassen.
Ivar verschwand wortlos in den Hain der Feste, um Ruhe zu finden. Es war ein heißer Tag, doch niemand wagte sich hierher, um im Schatten der Bäume zu entspannen. Die meisten bedrückte wohl die Gruft, die sich im Hain befand. Nachdenklich setzte er sich ins Gras und blickte den Holzaltar in seiner Nähe an. Es war ein Wanderschrein. Das letzte Mal hatte Ivar einen in den Wäldern von Gor gesehen. Gedankenverloren fuhr er über die Narbe unter dem Schlüsselbein, die er den Dieben zu verdanken hatte. Es kam ihm vor, als wäre das vor einer Ewigkeit gewesen, dabei war es lediglich sechs Monate her.

Vorsichtig öffnete er seinen Lederbeutel. Mit spitzen Fingern holte er Deas Schlüsselpaar hervor. Sie blitzten kühler als die seinen, aber waren schmuckvoller verziert. Wieder überkam ihn das Gefühl, dass er sie weglegen sollte.
»Dea, wo bist du nur«, flüsterte er.
Er nahm plötzlich jemanden hinter sich wahr und fuhr herum.
»Keine Sorge Ivar, ich bin‘s nur. Kann ich mich zu dir gesellen?«, fragte Tyr freundlich.
Ivar nickte träge aber sagte nichts. Der Rhaenar ließ sich gemächlich neben ihm nieder.
»Das sind ihre Schlüssel oder?«
»Es waren ihre.«
»Dea wird wieder kommen. Ich habe mein Vertrauen in sie noch nicht verloren. Sie ist eine von uns«, sprach Tyr in aufheiterndem Ton.
Ivar rupfte unruhig ein Büschel Gras aus.
»Wie soll ich ihr noch vertrauen? Jetzt wo die Schatten über uns hereinbrechen, Robyn tot ist und wir sie am aller meisten brauchen, lässt sie uns im Stich. Sie ist die einzige, die die Schatten vertreiben kann, sie hat ihr Schwert Elendior. Wenn ein Wächter auftaucht, sind wir verloren«, sagte Ivar resigniert.

»Es gibt immer einen Weg, du wirst sehen. Stell dir vor, Dea wäre vor einem halben Jahr nie am Steinernen Bogen aufgetaucht. Dann müssten wir diesen Kampf jetzt genauso ohne sie ausfechten.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, sie nicht zu kennen«, rutschte Ivar heraus.
Tyr überlegte einen Moment, ehe er antwortete.
»Du liebst sie, nicht wahr?«
Ivar spielte mit den Schlüsseln und sagte nichts.
»Ich nehme es dir nicht übel, mein Freund. Es sind harte Zeiten, durch die wir gehen. Klar, dass dir Dea nun fehlt, ihr habt viel Zeit miteinander verbracht. Mir fehlt Robyn auch. Ich brauche seinen Rat mehr als je zuvor, doch ich kann ihn nicht um Hilfe bitten. Wir sind nun unter uns und die Bande zwischen den Rebellen müssen stärker werden. Es darf nicht passieren, dass uns ein weiterer Erih den Rücken kehrt. Also mach bitte nichts Unüberlegtes. Respektieren wir Deas Entscheidung.«
»Ich verschwinde schon nicht, Tyr. Sie würde das ohnehin falsch verstehen, wenn ich ihr hinterherlaufe. Mach dir da lieber Sorgen um Raye. Er scheint noch unberechenbarer als sonst zu sein.«

»Ich denke, ihn nimmt Robyns Tod mehr mit, als er zugeben möchte. Besser wir behalten ihn im Auge und versuchen, ihn wieder unter Menschen zu bringen.«
Ivar nickte bloß.
»Es tut mir leid, dass ich dich hier so zurücklassen muss, aber ich habe einige Strategievorschläge, die ich Cayn und Fiona gerne unterbreiten würde«, sagte Tyr schließlich und verließ den idyllischen Hain.

Am liebsten wäre Ivar im Selbstmitleid versunken, doch das wäre lächerlich gewesen. Tyr, Ella und Raye hatten viel schlimmere Verluste erlitten und er saß hier und starrte Deas Schlüssel an. Mit einem Mal kam er sich dämlich vor. Er sollte jetzt stark sein, denn er war in einer gewissen Weise das Oberhaupt der Rebellen. Der, der sie vereint hatte und nun zusehen musste, dass sie auch vereint blieben. Er nahm sich vor Raye, die nächsten Tage aufzusuchen, um ihm beizustehen. Das alles diente schließlich einem höheren Ziel – Henry Artos zu retten und Salazar zu besiegen.

◆◆◆

Emeos
Emeos trieb sich mit Sagra und Ataxa in den Stillen Wäldern herum. Er wusste, dass er Dea hier nicht finden würde, dennoch hoffte er, dass seine Wölfe ihre Spur aufnehmen konnten. Konzentriert blickte er in die Ferne und hoffte irgendeinen versteckten Hinweis auf ihren Verbleib zu erhaschen. Doch selbst seine geschulten Augen konnten nichts finden. Zu viele Pferde hatten die Spuren verwischt, außerdem hatte es am Vortag geregnet. Als er sich hinunterbückte, um Schwarzkraut abzuzupfen, traf ihn ein stechender Schmerz in der Brust. Er ging auf die Knie und rang nach Atem. In seinem Kopf hörte er wieder das ohrenbetäubende Wolfsgeheul. Seine Haut fühlte sich an, als würde das Blut darunter kochen und er konnte sich kaum noch auf den Knien halten.
»Was geschieht mit mir?«, rief er verzweifelt.

Er versuchte aufzustehen und gegen das Gefühl anzukämpfen. Sein gesamter Körper war angespannt und seine Haut stach, als würden ihn tausend Nadeln durchbohren. Emeos kämpfte gegen den Schwindel an, doch letztendlich umhüllte ihn das Schwarz und er verlor das Bewusstsein. Als er zu sich kam, saß Ataxa starr wie eine Statue vor ihm und durchdrang ihn mit seinen goldenen Augen. Emeos hatte noch nie Angst vor seinen Wölfen gehabt, doch in diesem Moment wäre er am liebsten davon gelaufen. Er rappelte sich auf und blickte um sich. Niemand war hier.
Sagra tauchte plötzlich im Unterholz auf und hatte einen toten Raben in den Fängen.
»Bring das zu mir, Sagra.«

Die Wölfin legte das tote Tier vor seine Füße. Er konnte eine Nachricht daran ausfindig machen. Flüchtig las er die Schrift und lief sofort in die Stadt zurück. Er vergaß, was im Wald mit ihm geschehen war und rannte, bis er an den Toren des Sturmhains angelangt war. Sein Kopf war schwer und er konnte sich kaum erinnern, wie er hierhergekommen war. In der Feste suchte er aufgeregt nach Cayn, der noch immer mit Tyr und Fiona im Audienzsaal saß.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Finn, freundlich wie immer.
»Sagra hat einen toten Raben in den Stillen Wäldern gefunden. Er hatte eine Nachricht an seinem Bein. Seht.«

Emeos gab den Brief an Cayn und dieser las ihn aufmerksam durch.
»Wie es aussieht ist Varyn IX., der Manthor, tot. Der Geistliche Hochrat hat entschieden, dass der Hohe Manar Caeseran Thirian Salazar seinen Platz einnehmen soll. Die Weihung soll in zwei Tagen geschehen«, berichtete der Caer fassungslos.
Fiona riss den Mund auf und ausnahmsweise kam kein Schimpfwort heraus. Sie war genauso verblüfft wie Tyr und Cayn.

»Also hat Caeseran nur lange genug gewartet, um alle von seinem Können und seiner Macht zu überzeugen, bis er den Manthor endlich loswerden konnte. Wie einfach er nach Mithren marschieren und einfach alles niederbrennen konnte, hat sicher seinen Teil zu seiner Machtdemonstration beigetragen. Außerdem ist er sehr reich. Es gibt viele Möglichkeiten, wie dieser gottlose Bastardo es dazu gebracht hat, Manthor zu werden«, giftete Fiona.
»Die offizielle Meldung wird Aergard bald erreichen. Diese war wohl an Naerys Salazar gerichtet«, vermutete Tyr.

»Wir werden warten, was wir in den nächsten Tagen zu hören bekommen. Vielleicht will uns ja jemand einen Streich spielen«, beschloss Finn.
Emeos verließ die Gruppe und wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Sein Herz raste immer noch wie wild und er hatte keine Erklärung für das, was in den Wäldern mit ihm geschehen war.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lyras, der gerade mit Lennard um die Ecke kam.
»Mir war nur etwas schwindelig. Es geht schon wieder.«
»Dann komm mal besser mit. In der Stadt findet heute die Einschreibung für das Faustkampf-Turnier statt. Wir wollen sehen, wer mitmacht. Ich würde zu gerne ein paar feinen Leuten eine aufs Maul verpassen«, lachte Lyras.

»Ein Faustkampf-Turnier? Ich habe noch nie gehört, dass es so etwas in Mithren gibt. Buhurte oder Tjoste sind hier beliebter«, entgegnete Emeos überrascht.
»Aber Buhurte und Tjoste sind was für reiche Leute. Bei diesem Turnier kann jeder Bauerntölpel mitmachen. Aber auch hier gibt es einen Einsatz, den man zollen muss. Caeres Fiona hat das Turnier organisiert, weil die Prügeleien in den Tavernen zugenommen haben. Die Leute geben ihr die Schuld an dem ganzen Leid, das Aergard wiederfahren ist. Deswegen will Fiona, dass sich die Bürger abreagieren. Einen Aufstand können wir jetzt nicht gebrauchen«, erklärte Lennard.
»Na dann nimmst du wohl teil oder? Ich meine du hast ja ausgiebig in den Schenken geübt und bist garantiert mitverantwortlich für den dortigen Anstieg der Gewalt«, lachte Emeos.
Lennard stemmte die Fäuste in die Hüfte und grinste hinter seinem struppigen Bart hervor.
»Aber natürlich. Die sollen sehen, wer die meisten verhauen hat. Ich bin nicht umsonst der Publikumsliebling.«

»Sehen wir uns mal lieber deine Gegner an«, sprach Lyras und klopfte ihm auf die Schulter.
Die Massen drängten auf den Markt, denn dort befanden sich einige Stände, wo die Namen der Teilnehmer niedergeschrieben wurden und jeder eine Nummer bekam. Es dauerte eine ganze Weile, bis Lennard und Lyras zu dem Tisch kamen, um sich einschreiben zu lassen.
Emeos beobachtete einstweilen die Menge und suchte nach bekannten Gesichtern. Er entdeckte Ivars desinteressierte Miene, den eigenartigen Viktor Drossos und Lauryn Calderan. Hinter Lennard stand Caer Taron, der vor kurzem dem Bund des schwarzen Sees beigetreten war. Sein Bruder diente mit Caer Tjark der Sicherheit der Stadt. Eloy konnte Emeos jedoch nirgends entdecken.
»Na, schließt du dich auch dem prügelndem Pack an, Emeos?«, sagte eine bekannte Stimme.
Als er sich umdrehte, erkannte er Hadrian Harrachs makelloses Gesicht.
»Ich begleite nur meine prügelnden Freunde. Was ist mit Euch?«, fragte der Waldläufer.
»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Emeos. Für solche Spielchen habe ich keine Zeit«, entgegnete er und schnaubte höhnisch.

»Warum seid Ihr dann hier?«
»Reine Neugierde.«
»Wenn das nicht unser Großmeister ist!«, rief Lennard und legte den kräftigen Arm um seine Schulter. »Ich wollte schon immer einen Ordensmeister windelweich prügeln. Macht sich bestimmt gut bei den Frauen, wenn ich gegen Euch gewinne. Was sagt Ihr?«
Hadrian löste sich aus seiner Umarmung und sah den Rebellen genervt an.
»Bitte, ich habe …«
»Schiss, ich weiß. Ich verstehe das, wenn Ihr lieber in Eurem Ordenshaus sitzt und Euch mit Männern umgebt, anstatt Euch von Frauen bejubeln zu lassen. Jeder wie er möchte«, zwinkerte Lennard ihm zu.

»Ich suche nicht die Gesellschaft von Männern«, gab Hadrian trotzig zurück.
Lennard hatte ihn genau da, wo er ihn haben wollte und lächelte überlegen.
»Trotzdem habe ich Euch noch nie mit einer Frau gesehen. Schon ziemlich verdächtig. Außerdem gibt es nur eine einzige Frau in Eurem Orden. Und die ist groß und stark wie ein Bär und würde mir wahrscheinlich beim Armdrücken den Arm brechen.«
Emeos musste sein Lachen zurückhalten. Es war zu köstlich, wie Lennard Hadrian vorführte. Die Gesichtsfarbe des Großmeisters änderte sich schlagartig zu einem ansehnlichen mohnblütenrot, er knirschte mit den Zähnen. Dann straffte er die Schultern und gab sich unantastbar wie eh und je.
»Ich weiß schon worauf du hinauswillst, Rebell. Aber gut, so soll es sein. Du wirst sehen, wie viele Frauenherzen mir gehören«, sprach Hadrian voller Selbstvertrauen. Er grinste arrogant und drängte sich durch die Menge. »Aus dem Weg!«, zischte er und rempelte einen Mann zur Seite. Er schrieb sich für das Turnier ein und warf Lennard noch einen herausfordernden Blick zu, ehe er entschwand.
»Pah, dieser aufgeblasene Kugelfisch! Ich hoffe, ich schlage ihm einen Zahn aus, dann war‘s das mit seiner Makellosigkeit«, sagte Lennard und rieb sich die Hände.
»Der Großkotz bekommt immer was er will. Ich glaube du hast keine guten Karten«, meinte Lyras skeptisch.

»Bei den Kämpfen werden größtenteils Bastarde und ihre Weiber hier aufkreuzen. Und diese Leute kennen mich aus den Schenken. Zu wem werden sie eher halten, zu einem Kerl der säuft und vögelt wie sie oder zu einem arroganten Schönling, der einen Dreck auf diese Leute gibt?«
Lyras zog überrascht die Augenbrauen hoch.
»Der Punkt geht dann wohl an dich. Trotzdem musst du ihn im Faustkampf besiegen, das ist kein Beliebtheitswettbewerb.«
»Aber Hadrian wird irritiert sein, wenn die Masse meinen Namen ruft und ihn ausbuht. Es wird mich stärken und ihn schwächen. Ich kenne das aus meinen Tavernen Prügeleien«, sagte Lennard selbstsicher.
»Verlass dich mal nicht zu sehr auf deine Theorie, mein Freund«, meinte Emeos.
»Und? Wen konntest du entdecken?«, fragte Lennard.
»Ivar war hier, aber er wird nicht teilnehmen. Dafür aber Lauryn, Taron und Viktor, dieser Stadtverwalter aus Arbor.«

»Keine Herausforderung also. Wenigstens bleibt noch der Schnösel.«
Die Drei wurden von einem Menschenauflauf abgelenkt. Den Geräuschen und Schreien nach, prügelten sich zwei Leute in der Nähe. Lennard und Lyras konnten natürlich nicht anders und quetschten sich durch die Leute, um näher heranzukommen. Emeos folgte ihnen augenrollend.
»Du hast mir mein Gold gestohlen!«, schrie ein ärmlich aussehender Mann.
»Das habe ich nicht. Du Fettsack hast es wohl verloren!«
Die beiden gingen aufeinander los und der Dicke brach dem vermeintlichen Dieb sogleich die Nase. Mit einem schauderhaften Knacken war es geschehen. Der Mann ging schreiend zu Boden.
»Na warte du Hurensohn!«, schrie er und rappelte sich auf, sein Gesicht war blutverschmiert.
Emeos lief nach vorn, um den Streit zu schlichten. Als der stämmige Mann noch einmal ausholte, trat ein dritter Mann dazwischen und fing den Schlag mit solcher Geschwindigkeit ab, dass Emeos vor Staunen beinahe die Augen aus dem Kopf kullerten.
»Auseinander«, sagte der Fremde in scharfem Ton.
»Willst du dich auch noch einmischen? Verschwinde oder deine Nase ist die nächste!«
»Versuch es. An deiner Stelle würde ich mich einfach umdrehen und gehen.«
Der fettleibige Kerl holte erneut aus, doch der andere fing seine Faust ab und renkte ihm mit einem Ruck den Arm aus.

»Jetzt kannst du gehen oder hast du vor mit der Linken um dich zu schlagen?«, meinte der Streitschlichter kühl.
Die Menge jubelte und die zwei Streithähne gingen getrennte Wege. Der mit dem ausgekugelten Arm schrie und suchte nach jemandem, der ihm diesen wieder einrenkte. Lyras lief zu dem Mann, der den Streit mehr oder minder geschlichtet hatte.
»Das war ganz schön beeindruckend. So jemandem wie dir würde ich gerne im Wettkampf gegenüber treten. Ich hoffe, du nimmst teil?«, fragte der Lorellian neugierig.
Der Fremde musterte Lyras und warf dann einen Blick zu Lennard und Emeos. Er setzte ein tückisches Grinsen auf.
»Nehmen du und deine Freunde etwa auch teil?«
»Nur der breit gebaute Nalahane und ich. Der andere nutzt Gewalt nur als äußerstes Mittel«, erklärte Lyras mit einem verschmitzten Lächeln.
»Dann muss ich es nicht bereuen, mich eingeschrieben zu haben. Es gibt anscheinend doch ein paar würdige Gegner.«

»Aber klar, Lennard und ich haben‘s faustdick hinter den Ohren! Wir gehen jetzt noch ein Horn Bier trinken, schließ dich uns an«, schlug Lyras vor.
»Gut, gehen wir.«
»Wie heißt du eigentlich?«
»Severian Exelion. Und ihr?«
»Ich bin Lyras Scarmante. Ja, du hast richtig gehört, einer der legendären Scarmante Brüder! Das sind Emeos Thalranian und Lennard Norvin. Wir gehören dem Widerstand an. Weswegen bist du in der Stadt?«
Severian zuckte mit den Achseln.
»Ich wollte mein Glück hier versuchen. Ich hörte, die Stadt steht in einem Krieg mit irgendjemandem. Ich habe Lust auf ein Abenteuer«, meinte Severian.
»Also bist du entweder sehr mutig oder einfach nur lebensmüde. Darauf trinken wir«, sagte Lyras und betrat die Schenke.

◆◆◆

Fiona
Es war Abend geworden und Fiona lag nackt in ihrem Bett.
»Bring mir Wein mit.«
Lauryn tat, wie ihm geheißen und legte sich zu ihr. Fiona nahm ihm den Weinbecher aus der Hand. Mit ihrem Fingernagel fuhr sie die Narbe in seinem Gesicht nach. Er hatte sich beim Angriff auf Aergard eine breite Wunde durch einen Schwertstreich zugezogen. Sie war noch nicht ganz verheilt und Fionas Berührung schmerzte ihn. Lasziv nahm sie einen Schluck Wein und leerte ihm ein wenig aus dem Kelch in den Mund.
»Willst du es wirklich tun?«, fragte er sie.
»Ich muss es tun.«

»Aber warum?«
»Ich frage mich, was noch von mir bleibt, wenn mein Selbstvertrauen und meine Keckheit schwinden. Nur Egoismus und Selbstgerechtigkeit. Eine Frau, die nach dem Blut ihrer Feinde lechzt und nichts mehr will, als auf ihren Leichen den Thron zu erklimmen, um nach den Sternen zu greifen.«
»Du bist zu hart zu dir. Alles was du getan hast, diente einem höheren Zweck. Es diente Mithras. Wäre es nicht ein Fehler, das alles wegzuwerfen? Sieh was du erreicht hast«, sagte er und breitete die Arme aus.
»Sieh was ich angerichtet habe. Es muss so sein, für Robyn.«

Lauryn schüttelte müde den Kopf.
»Klingt beinahe so, als hättest du ihn geliebt. Warum sonst würde man so etwas tun?«
Fiona lachte und Lauryn blickte verdutzt drein.
»Du Dummkopf würdest doch auch denken, dass ich dich liebe. Ich habe ihn respektiert. Und meine Wertschätzung ihm gegenüber resultiert in mein Handeln. Ich werde es tun.«
»Ich hoffe du bereust es nicht.«
»Ich bereue ganz andere Dinge«, sagte sie und küsste ihn.


BAND 3:

Lange Leseprobe von Band 3 als PDF

Sieben Schlüssel – Kinder der Sterne

Kapitel 1 – Der Gigant

Tyr

Es regnete in Strömen, als sie den Sarg hinunterließen. Es war ein Herbstnachmittag aus dem Bilderbuche. Die Totengräber schaufelten stumm, während die Mitglieder des Widerstandes mit gesenkten Köpfen daneben standen. Lyras, der sichtlich mit den Tränen kämpfte, streute Erde ins Grab seines Bruders. Stumm vollzog er den Lichtgruß. Sein dümmliches Grinsen war verschwunden. Auch die Bogenläufer waren anwesend und hatten eine Grabesmiene aufgesetzt. Tyr hatte sie zu einer Einheit zusammengeschweißt und so litten sie nun auch gemeinsam. Alara schmiegte sich an ihn und schluchzte leise. Er musste etwas sagen, die bedrückende Stille bekämpfen.
»Unsere Tränen werden trocknen, wenn wir ihnen Zeit geben. Lasst uns nicht verzweifeln. Matheons Tod wird nicht vergessen werden. Arbors Ende ist nah.«

In der Ferne ertönte das Klappern unzähliger Rüstungen marschierender Soldaten. Die Männer Tariels waren gekommen, wie der Statthalter es versprochen hatte. Es war an der Zeit, ein Ende des Krieges herbeizuführen. Naerys Armee sammelte sich im Norden, bereit, sich an ihnen zu rächen. Das Schicksal Aergards lag in den Händen der Rebellen. Die Schwerter des Südens mussten rechtzeitig eintreffen.

Tyr fühlte sich müde und ausgelaugt. Er schlenderte in den Ruheraum, um Kraft zu tanken. Schwerfällig ließ er sich auf einer Matte nieder und sog den würzigen Geruch der Kerzen ein. Lange versuchte er seinen Geist zu beruhigen und inneren Frieden zu finden, doch er kam nicht zur Ruhe.
»Du bist aus dem Gleichgewicht«, sagte Alara und setzte sich neben ihn.
»Du hast recht. Lass uns gemeinsam die Tugend des Rhai sprechen. Harmonie und Ruhe. Das brauche ich jetzt.«
Sie verinnerlichten das Mantra einige Male, doch Tyr war immer noch abgelenkt. Etwas in ihm sträubte sich. Normalerweise hatte er sich voll und ganz unter Kontrolle. Nur so war es ihm gelungen, Robyns Tod zu verkraften und nicht auf den Pfad der Toten zu wandeln.
»Nimmt dich Matheons Tod so mit?«
»Ja, ich bedauere seinen Tod sehr. Aber da ist noch etwas anderes. Die Unruhe kommt aus meinem Innersten. Von der Stelle, an der etwas verborgen liegt«, sagte Tyr ehrfürchtig.

»Du meinst den Schlüssel zur Geisterwelt, nicht wahr?«
Er nickte ernst. Ein Ungleichgewicht in der Geisterwelt konnte nichts Gutes bedeuten. Er hatte schon länger ein seltsames Gefühl gehabt, aber nun war er sich sicher.
»Wirst du der Sache auf den Grund gehen?«, fragte Alara besorgt und nahm seine Hand in die ihre.
»Ich befürchte, ich muss. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald wieder zurück.«
»Warte«, sagte sie, zog ihn an sich und küsste ihn. »Kannst du dort verletzt werden?«
»Ja. Mein Körper bleibt zwar hier, aber wenn mir etwas zustößt, wird mein Geist Schaden nehmen und mein Körper sterben. Aber so weit wird es nicht kommen.«

Tyr öffnete die Augen. Ein kühler Wind wehte auf dem Berg, auf dem er sich befand. Er ging zur Klippe und sah hinab. Vor ihm erstreckte sich ein grünes Tal mit einem reißenden Fluss. Es sah malerisch aus, unwirklich. Doch Tyr wusste, dass die Geisterwelt realer war, als die meisten Gelehrten glauben mochten. Ebenso ihre Gefahren. Rasch kletterte er die Felswand hinab und sprang auf einen Vorsprung. Als er nach vorne blickte, war das Tal verschwunden. Unter ihm erstreckten sich gähnende Leere und verschlingende Dunkelheit. Tyr versuchte sich von den Eigenarten dieser Welt nicht einschüchtern zu lassen. Mutig kletterte er weiter ins Ungewisse. Nach einer Weile wurde es heller und er erkannte Boden unter sich. Nun befand er sich in einer beklemmenden Schlucht. Sie war gerade einmal zwei Schritt breit und so hoch, dass er den Kopf in den Nacken werfen musste, um den Himmel zu sehen.
»Dann mal los.«

Der Rhaenar konzentrierte sich auf sein Innerstes. Nur so würde er herausfinden, wo sich die Ursache für das Ungleichgewicht der Geisterwelt befand. Bald vernahm er einen schwachen Impuls. Der Weg war noch weit. Er machte kehrt und ging die dunkle Schlucht entlang. Eine Weile geschah nichts, nur dunkle Steinwände um ihn herum und das Echo seiner hastigen Schritte. Doch dann hörte er plötzlich ein Wispern und bald darauf lautstarkes Dröhnen hinter sich.
»Geister.«
Er sah bereits die ersten unförmigen Wesen aus der Dunkelheit sausen und rannte los. Viele Auswegmöglichkeiten gab es nicht und der Abgrund schien kein Ende zu nehmen. Mit rasendem Tempo fegte er voran und die bunten, phantomhaften Wesen setzten ihm nach. Er rannte und rannte und schwitzte wie ein Gewichtheber. Ein Fuß nach dem anderen, ein Blick zurück – so viele Geister hinter ihm.

»Was wollt ihr denn von mir? Was habe ich euch getan?«
Sie hatten ihn beinahe. Plötzlich stürzte er, fiel Stufen hinab, die gar nicht da sein durften. Die Geisterwesen zischten über seinen Kopf hinweg. Stöhnend richtete er sich auf. Sein Knie schmerzte höllisch und sein Ellenbogen blutete. Die Geister waren verschwunden und er verschnaufte.
»Das war knapp.«
Er konzentrierte sich und fühlte wieder den dunklen Puls. Er war nun stärker. Wenigstens hatte dieser Spurt etwas Gutes an sich.
Humpelnd machte er sich auf den Weg zu einer langen Brücke, die über einen Fluss mit kristallklarem Wasser führte. Geister zogen an ihm vorbei und er zuckte zusammen. Doch sie beachteten ihn gar nicht. Tyr überquerte den Strom und genoss den Ausblick über die wundersame Welt. Bald kam er zu einer Weggabelung und er erschrak.

Dort vorne war ein Mensch – und zwar nicht irgendeiner. Tyr kannte ihn nur allzu gut. Es war sein Meister. Rhaon stand vor ihm, unter der Last der Jahre gebeugt, wie Zweige eines Baumes, die schwer von Birnen waren. Er trug sein übliches Gewand – die engen grauen Leinenhosen und das ockerfarbene, fleckige Fischerhemd. Sein kurzer Bart war schneeweiß, genau wie sein kurzgeschorenes Haar. Er bemühte sich sichtlich um eine aufrechte Haltung.
»Meister Rhaon! Schön euch zu sehen«, rief Tyr freudestrahlend.
Er hätte nicht erwartet, ihn je wiederzusehen, war es doch schier unmöglich, nach Ferros zurückzukehren. Doch Rhaon schien nicht erfreut ihn zu sehen, er nahm ihn überhaupt nicht wahr.
»Ich bin es, Euer Schüler Tyr aus Terrastras, Meister.«
Tyr verschränkte die Arme hinterm Rücken und verneigte sich ehrerbietig. Doch Rhaon brabbelte etwas vor sich hin, das er nicht verstand. Nur ein Wort hörte er klar heraus: Schatten.

»Meister Rhaon, geht es Euch gut?«, fragte er besorgt und schüttelte den betagten Greis.
Plötzlich erhellte sich seine Miene und seine Augen durchbohrten ihn wie ein Pfahl.
»Weiße Rösser werden dir auf dem Pfad des Todes begegnen. Drei an der Zahl werden es sein, in Reih und Glied werden sie stehen. Und dann sollst du wissen, dass dein Weg unabänderlich vorherbestimmt ist und dass du den Weg des Todes gewählt hast.«
Rhaons Blick wurde wieder unstet und verwirrt, er brabbelte wirres Zeug und schlurfte im Kreis. Schließlich setzte er sich ins satte Gras und rupfte Büschel davon aus.
»Nicht geschafft… Schatten… Nicht geschafft… unmöglich.«
Wovon redete sein Meister da? Was war mit dem alten Mann geschehen? Und was hatte seine mysteriöse Prophezeiung zu bedeuten? Tyr setzte sich neben Rhaon und legte ihm den Arm um die Schulter. Er hatte eine Vermutung, was ihm zugestoßen war, aber noch war er sich nicht sicher. Ich muss dem Impuls folgen. Er stand auf und verabschiedete sich schweren Herzens von seinem Meister. Dann nahm er den linken Weg der Weggabelung und schon bald stieg er einen Hügel hinauf und blickte auf ein Gerstenfeld.

Inmitten der Gerste, unter einem strahlend blauen Himmel, saßen Männer. Einige von ihnen trugen einzigartige Rüstungen und Masken, andere nur einfache Kleidung. Tyr blickte auf die Rhaenar, die zusammengekauert im Feld hockten, wirres Zeug von sich gaben und ins Leere starrten. Er sprach mit jedem der vierzehn Männer, doch keiner nahm ihn war. Sie verhielten sich gleich wie Rhaon. Als Tyr nach Norden blickte, war er sich sicher, was mit den Kriegern geschehen war. Sie waren tot. Ihre Körper verfaulten in Terrastras, während ihr Geist für immer in dieser Welt gefangen war. Ihm wurde bitterkalt. Zitternd setzte er sich in die Gerste. Vor ihm, weit im Norden, lag etwas Dunkles, etwas Böses. Die anderen Rhaenar hatten die gestörte Balance dieser Welt ebenso wahrgenommen, aber die Dunkelheit hatte sie verzehrt. Waren sie dort hineingegangen und gestorben? Wenigstens leiden sie nicht wie die Verlorenen am Pfad der Seelen. Wollte er nicht ihrem Beispiel folgen, hätte er gut daran getan, umzukehren. Doch er kehrte nicht um. Tyr stand auf und ging los. Er wusste, dass er in Gefahr war – in großer Gefahr. Ich kann nicht umkehren, bevor ich Gewissheit habe, was hier vor sich geht. Wenn Alara darum wüsste, würde sie mich vermutlich verprügeln. Tyr schob seine Gedanken beiseite und ging auf das Dunkle zu. Bald erkannte er, was es war. Vor ihm lag ein Wald aus riesigen Dornen, schwarz wie Pech. Surreal verknotet, verwoben und gigantisch. Furcht überkam ihn. Noch nie hatte er dergleichen Bösartiges gesehen und solch eine seltsame Angst vernommen. Doch – einmal. Als Reznur am Dunkelsee erschien. Er sah an sich hinab und nahm die Schlüssel, die um seinen Hals hingen, in die Hände. Sie leuchteten. Und dann wusste er es. Die Schatten. Sie kommen. Er hörte ein grauenhaftes Kreischen. Deamar. Nun war ihm klar, warum ihn vorher einige Geister gejagt hatten, obwohl die Wesen grundsätzlich friedliebend waren. Das Ungleichgewicht war schon sehr groß und die Geister veränderten sich. Tyr hatte nie hinterfragt, warum ein Teil von Reznur in der Geisterwelt bestehen hatte können. Er hatte es als selbstverständlich hingenommen, da er ein Geist gewesen war. Doch nun ahnte er etwas. Und dieses Wissen musste er so schnell wie möglich nach Aergard tragen.

Bald fand er sich im Ruheraum wieder. Alara seufzte auf und warf sich ihm an den Hals. Sie bedeckte ihn mit hunderten Küssen.
»Ich dachte, du würdest nicht zurückkehren, mein Herz.«
Tyr drückte sie fest an sich und küsste sie.
»Alles in Ordnung. Wie lange war ich weg?«
»Einige Stunden. Du hast gegen Ende stark aus der Nase geblutet. Was ist geschehen? Konntest du das Gleichgewicht wiederherstellen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ist es so schlimm?«
»Sehr schlimm. Ich fürchte, die Schatten sind näher, als wir dachten. Und sie sind mächtig.«
Furcht nahm Alara ein. Ihre Stirn zog sich besorgt kraus. Tyr nahm ihr Gesicht in seine Hände, streifte über ihre Narbe, küsste sie. Ihre Lippen waren zart und großzügig, schmeckten nach Birne. Er bettete sie auf die Matten und sie liebten sich lange und noch inniger als sonst. Es war, als hätte er sie eine Ewigkeit nicht in seinen Armen gehalten. Ihre Nähe vertrieb die Kälte, die ihm die Geisterwelt in die Knochen getrieben hatte. Sie schlang ihre langen Beine um seine Hüfte, vergrub ihre Hände in seinem Rücken. Zart hauchte sie ihm ins Ohr.
»Ich liebe dich bis ans Ende aller Tage, Tyr. Denk daran, immerzu.«
»Das werde ich.«
Als sie still nebeneinander lagen, erzählte er ihr, was in der Geisterwelt geschehen war. Er berichtete von Rhaon und den anderen Gefallenen, von ihrer Verwirrung und dem rabenschwarzen Wald. Sie boxte ihn in die Seite, als sie hörte, dass er nicht sofort umgekehrt war. Dann zog sie ihn fester an sich.
»Ich habe Angst um dich.«
»Fürchte dich nicht, Alara, ich werde es beenden. Lass uns gehen. Der Widerstand muss sofort darüber in Kenntnis gesetzt werden.«

◆◆◆

Ivar

Vor ihnen trieb ein riesiges, qualmendes Wrack. Einige Noctar schrien noch schwimmend um Hilfe, andere trieben tot im Wasser. Ivar fühlte sich elend und übergab sich über die Reling. Nepherio stand neben ihm und blickte starr ins dunkle Wasser. Sie hatten Fiona sterben sehen. Nichts als rotes Wasser war von ihr geblieben.
»Das Meer hat sie sich genommen. Sie ist fort. Für immer«, sagte der Steuermann gedankenverloren.
Ivar hustete und wischte sich die Spucke mit dem Hemdsärmel ab. Wie sollte er für das eben Geschehene die richtigen Worte finden, wenn es denn welche gab?

»Fionas Tod war nicht umsonst. Die Inquisition ist ein für alle Mal besiegt. Und sie ist ins Meer gegangen, wie eine richtige Lorellian es gewollt hätte. Sie starb in Ehre.«
Nepherio knirschte mit den Zähnen.
»Sie starb, weil ihr eigener Bruder sie ermordet hat. Daran ist nichts Ehrenhaftes! Philian war mein Freund, er hat mir das Leben gerettet. Wie konnte er das nur tun?«
Seine Augen waren voller Wut und Trauer. Seine Unterlippe bebte und nur mit Mühe schaffte er es, ein Schluchzen zu unterdrücken. Ivar wusste keine Antwort darauf. Er erkannte keinen Sinn in alledem. Aber eines wusste er – sie mussten so schnell wie möglich zurück an Land. Jetzt war der einzig richtige Moment, um Salazar anzugreifen. Kore teilte denselben Gedanken.

»Los, in die Rahen Männer, an die Leinen! Wir segeln nach Rhanelle! Dalli!«
»Lebe wohl, Fiona. Ich werde Salazar in den Arsch treten, wie du es gewollt hättest«, sagte Nepherio entschlossen und nahm das Steuerrad in die Hand.
Ja, lebe wohl, Finn. Ich sorge dafür, dass dir ein gebührender Platz in den Geschichtsbüchern zukommt. Und dass es die übertriebenste Geschichte sein wird, die je niedergeschrieben wurde.
Die Magnolia nahm rasch Fahrt auf. Sie segelten durch die Trümmer gesunkener Schiffe, durch einen Teppich aus Holz und Feuer. Die Wogen schlugen über den Wrackteilen zusammen, verschluckten Tote und Lebende. Sie bargen noch einige über Bord gegangene Piraten und den verletzten Kapitän Lores.
»Du alter Haudegen bist wohl nicht kleinzukriegen, was?«, meinte Ivar und zog ihn an Deck.
»Noch gebe ich nicht den Löffel ab, Bürschchen! Ich will ein freies Rhanelle sehen.«
»So gefällt mir das! Werdet ihr uns im Kampf gegen Salazar beistehen? Wir segeln direkt nach Rhanelle und stürmen den Taldras. Salazar wird keine andere Wahl haben, er wird sich uns stellen müssen.«

»Ich bin Seefahrer, kein Soldat. Aber ich werde meinen Säbel nach dem Bastard schwingen, so wahr ich hier stehe«, bekräftigte Lores und warf sich in die graubehaarte Brust.
»Wir haben den Orden der Roten Sonne auf unserer Seite. Sie sollten den Weg bereits für uns geebnet haben.«
»Dann haben wir keine Zeit zu verlieren!«
Nepherio manövrierte den wendigen Zweimaster geschickt durch die Schären. Seine Augen waren glasig, sein Blick leer. Ivar schluckte bitter. Er konnte nur erahnen, welchen Verlust er erlitten hatte. Fiona war auch ihm ans Herz gewachsen, aber er betrauerte ihren Tod nicht; er war unsagbar wütend.

Rauch hing über den Dächern Rhanelles. Der malerische Anblick der bunten Stadt trog. Glocken läuteten, Menschen schrien, Kämpfe tobten in Gassen und Straßen, fluteten die Basare. Ivar ging über das Fallreep an Land. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Er zog Schattenspalter und lief mit dem Getümmel den Hafen entlang. Ein Wald aus brennenden Mästen empfing ihn, sowie zerborstene, kohlschwarze Schiffsrümpfe. Doch Ivar hatte keine Zeit, sich das Spektakel genauer zu besehen. Er musste zum Taldras-Platz vordringen. Wieder war der Platz zum Konfliktherd mutiert. Auch die einfachen Bürger begehrten gegen Salazars Schergen auf. Ivar und Nepherio stürmten den Platz mit ihren Kameraden, rasend und wütend, bereit, in den heiligen Marmorhallen Blut zu vergießen. Er entdeckte Icabod Spaltzunge; dickes Blut rann von der Schneide seiner grobschlächtigen Axt, nichts als Mordlust funkelte in seinen Augen. Valyr Faravell war bei ihm. Er vollführte einen seitlich gerichteten Hieb mit seinem Säbel und richtete damit einen Schattenwanderer. Er fluchte und spuckte, als er Ivar ausmachte.

»Das wurde aber auch Zeit, Scheißer!«
»Es gab einige Komplikationen. Die Inquisition kam uns in die Quere. Aber um die müssen wir uns keine Sorgen mehr machen.«
»Na wenigstens etwas! Viele Männer hast du nicht dabei, sind wohl einige draufgegangen. Wo ist die impertinente, rothaarige Göre?«, meinte Valyr und rieb sich Kautabak unter die Lippe.
»Sie hat ihr Leben gegeben, um Hestian aufzuhalten.«
»Ein Jammer.«
»Genug geredet. Hinein in den Götterschrein mit uns, ich will Salazar mein Begehr vortragen.«
»Na dann los. Meine Männer haben alles abgesichert. Unmöglich, dass er fliehen konnte. Wir haben ihn.«
Davon wollte sich Ivar lieber selbst überzeugen. Zwei Männer öffneten die wuchtigen Tore des Taldras. Ivar keuchte erstaunt auf, als er hineinging. Gigantische Marmorsäulen füllten den Raum, ragten über ihre Köpfe hinaus wie weiße Riesen. Ehrfurchtgebietende Stille empfing sie. Die Luft war schwer von Gewürzen und Rauch. Kapitän Lores warf sein Schwert fort.

»Hier drinnen werd‘ ich kein Blut vergießen. Zerren wir Salazar nach draußen.«
Riesige Lampions schwirrten in der Luft und alle paar Meter brannten ellenlange Kerzen. Arabesken und Reliefs der Götter und der Menschen, die ihnen huldigten, schmückten die Wände und Säulen.
»Das ist die Goldene Halle, die Halle der Götter«, flüsterte Nepherio.
Am Ende der gewaltigen Halle standen zu jeder Seite zwei Götterstatuen auf vergoldeten Bronzesockeln. Zwischen ihnen führten rote Marmorstufen hinauf zu einem breiten Thron. Dahinter wachte die Erdengöttin Cereles darüber. Doch Caeseran war nicht hier. Zu Füßen des wuchtigen Throns lagen zwei tote Wachmänner. Ihr Blut rann die Stufen herab. Nepherio fiel auf die Knie und vollzog den Lichtgruß.

»Blut wurde in der Goldenen Halle vergossen! Die Götter wurden entehrt!«, rief Lores bestürzt und fiel ebenso auf die Knie.
»Dieser Feigling ist geflohen. Ich wusste es!«, knurrte Ivar.
Doch dann hörte er etwas aus einem Nebengang. Schritte. Ein hochgewachsener, mondäner Mann mit grauem Vollbart, ansehnlichen Gesichtszügen und zurückgestreiftem, nackenlangem Haar kam herein. Er trug die gläserne Krone des Manthors und eine weinrote, mit Goldfaden bestickte Robe. Caeseran Thirian Salazar. Er war ohne einen einzigen Soldaten gekommen. Ivars Brust schnürte sich zusammen. So lange hatte er auf diesen Moment gewartet und nun würde es enden.

»Hattet ihr erwartet, ich säße den ganzen Tag auf diesem ungemütlichen Thron? Seid nicht töricht«, lachte Caeseran. »Ihr habt euch reichlich Zeit gelassen. Wie ich sehe, ist Fiona Ilaria nicht bei euch. Dann hat ihr Bruder also seinen Wunsch erfüllt.«
Nepherio schrie auf und zog sein Schwert. Ivar hielt ihn zurück.
»Halt! Wir brauchen ihn lebend, sonst ist Henry Artos verloren.«
»Suchst du noch immer diesen Jungen? Deine Hingabe und deine Entschlossenheit ist bewundernswert, Ivar Hennes.«
»Haltet Euer Maul. Es ist vorbei, Eure Herrschaft endet nun. Das Licht wird euren Schatten aus dieser Welt vertreiben. Ergreift ihn.«
Die Brüder des Ordens der Roten Sonne stürmten nach vorne, doch Caeseran fürchtete sich nicht. Er lächelte überlegen. Plötzlich ertönte ein gewaltiges Donnern unter ihnen. Was auch immer die Geräusche verursachte, war groß. Und sehr nahe. Caeseran ging zum Thron hinüber und stieg die Stufen hinauf. Wie ein König setzte er sich und beobachtete grimmig das Geschehen. Ivar nahm Kampfhaltung ein.

»Denkt ihr denn, mein Sohn und der Lord von Aminar hätten mich schutzlos in Rhanelle gelassen? Dass ihr einfach hier hereinstürmen und mich töten könntet? Euer Handeln zeugt von eurer Kurzsichtigkeit. Lasst mich euch belehren.«
Ein weiteres Mal donnerte es und dann stapfte eine gewaltige Gestalt in den Raum. Zehn Mann hoch türmte sie sich auf und reichte knapp bis unter das Dach des Taldras. Ihr schwarzer Körper war von goldenen Mustern durchwirkt, der Körper von Muskeln gestählt. Schuppenartig reckten sich Platten an Schultern und Ellenbogen nach oben, beinahe wie bei einem ausgefallenen Plattenpanzer. Der Kopf war breit und in die Länge gezogen und barg keinen Mund, aber dafür drei längliche Schlitze aus denen goldene Augen leuchteten.

Caeseran erhob sich aus dem Thron und breitete einladend seine Arme aus.
»Lasst mich euch den Giganten von Garthas vorstellen.«
»Das ist nicht möglich!«, rief Lores.
»Seid nicht abergläubisch, Kapitän! Die sagenumwobene Stadt des Leids – Garthas, ein Mythos, ersonnen von religiösen Fanatikern! Nichts als Narretei!«, knurrte Nepherio.
»Nichts daran ist ersonnen. Der Gigant kommt aus dem Reich der Schatten, aus der Stadt des Leids, der Stadt der Sünde. Er nährt sich von den Grausamkeiten der Menschen, unstillbar hungrig und immerzu festgekettet, um seinen Wahnsinn zu bändigen. Doch der Lord von Aminar war so frei, seine Fesseln zu sprengen. Empfangt seinen Zorn auf die Menschen, die ihm dieses unsagbare Leid zufügten.«

Ivar trat nach vorn und schnaubte verächtlich.
»Was für ein fettes, hässliches Subjekt.«
Der Gigant von Garthas stapfte gemächlich auf sie zu.
»Hätte ich doch besser mein Schwert mitgebracht«, sagte Lores und lachte grimmig.
»Ich suche dann mal das Weite. Ich bin Piratin und keine Heldin«, sagte Kore.
»Hiergeblieben!«, brüllte Nepherio. »Fiona ist für uns in den Tod gegangen, für euch alle! Wir töten dieses Monstrum und dann holen wir uns Salazar. Für ein freies Lorell, für ein freies Terrastras!«
»Er hat recht! Gemeinsam schaffen wir es«, rief Ivar und lief los.
»He du Kotzbrocken, hier!«
Der Gigant brüllte und stürmte auf Ivar zu. Mit zwei Schritten war er bei ihm und stampfte wütend auf, dass die Erde bebte. Ivar sprang im letzten Moment zur Seite. Sein gewaltiger Gegner war zwar riesig, aber keinesfalls schwerfällig.
»Furchtloser, du wirst deinem Namen gerecht! Ich schicke meine Männer hinaus, Seile zu beschaffen! Lenk ihn ab!«
»Leichter gesagt, als getan!«
Kore tauchte neben Ivar auf.
»Unsere Chancen sind begrenzt. Aber ich habe da eine Idee.«
»Denkst du dasselbe, was ich denke? Die Säulen?«
»Aye. Nepherio, seine Leute und ich übernehmen die linke Seite, der Rotbärtige und du die rechte.«
Valyr und Ivar stürmten zur ersten Marmorsäule und der Gigant holte aus. Sein mächtiger Schlag zertrümmerte gleich zwei Pfeiler über ihren Köpfen. Steinstaub wirbelte auf und Ivar sprang blind zur Seite. Etwas traf sein Bein und er schrie auf. Kalkweiß von Kopf bis Fuß rappelte er sich auf. Der Gigant holte erneut aus… und Valyr stand in Reichweite.
»Faravell!«
Ivar sprintete los und riss ihn im letzten Moment um. Ein Steinregen ging auf sie nieder, krachend stürzten weitere Säulen ein. Ivar wurde begraben. Der Gigant hob die Fäuste über seinen gewaltigen Schädel, bereit Ivar und Valyr zu Knochenstaub zu zermalmen. Plötzlich schrie das Monstrum auf. Ein langer Speer ragte aus einem der drei Augen des Giganten von Garthas. Stellan jubelte.

»Das ist für unsere Padrona!«
Gerade als er von der Marmorsäule hinunterklettern wollte, deren Höhe ihm diesen sagenhaften Wurf ermöglicht hatte, riss der Gigant den Speer aus seinem Auge. Er wirkte wie ein Zahnstocher in seinen gewaltigen Händen. Er spießte Stellan damit auf. Achtlos schmetterte er ihn gegen die Wand. Ria entglitt ein stummer Schrei, sie lief zu Stellan hinüber und achtete dabei nicht auf das Ungetüm. Ivar kroch aus dem Geröll.
»Rühr sie nicht an! Hier bin ich, du gigantischer Scheißhaufen, hier!«
»Ja genau, hier drüben sind die echten Kerle!«, brüllte Faravell neben ihm. »Bei den Göttern, wenn ich wegen dir draufgehe, werd‘ ich mir das nie verzeihen!«
Der Gigant kam zu ihnen herüber und die beiden sprinteten zu den nächsten Säulen. Und wieder schlug die Kreatur um sich und machte die Pfeiler zu Staub. Endlich kehrten Faravells Leute mit Seilen und Ketten zurück. Geschickt umringten sie die Beine des Giganten damit. Der Riese ließ sich damit zwar nicht bändigen, aber er war in seiner Bewegung eingeschränkt und mit den vielen lästigen Angreifern beschäftigt. Das gab den Bogenschützen Zeit, auf seine Augen zu zielen. Ein Pfeilhagel ging auf die Kreatur nieder und sie krümmte sich vor Schmerz. Geblendet ging er in die Knie und schlug rasend um sich. Die Brüder und Schwestern des Ordens wurden wie Ameisen davon geschleudert. Wieder stürzten einige Pfeiler ein.

»Nur noch eine Säule!«, schrie Nepherio und lief hin. »Bringt euch in Sicherheit!«
Der Gigant von Garthas richtete sich wieder auf und setzte zum finalen Schlag an. Er streifte Nepherio und schleuderte ihn gegen die Wand. Gleich danach zerbarst die letzte Säule, die das riesige Kuppeldach stützte. Ivar und Faravell rannten um ihr Leben. Sie hasteten aus der Goldenen Halle und sahen zu, wie das Dach einstürzte und den Giganten und viele andere Kämpfer unter sich begrub. Eine gewaltige Wolke hüllte den gesamten Taldras Platz in Marmorstaub. Ivar lag keuchend und spuckend auf den Stufen des Taldras, des größten Götterschreins, der je erbaut worden war. Er sah sich um. Einige Wände des Schreins standen noch, der Rest war eingestürzt. Am Platz hinter ihm schrien Menschen, rannten wirr umher. Ria kniete neben Stellan, den sie vor dem Einsturz bewahren konnte. Aber er war bereits tot. Sie weinte tonlos und Ivar legte ihr den Arm um die Schultern. Die Maethar en Mithra hatten heute schwere Verluste erlitten. Aber es war noch nicht vorbei. Valyr hielt sich eine Platzwunde am Kopf und knirschte mit den Zähnen.

»Holen wir uns den Bastard.«
Sie stiegen über die Trümmer des Schreins, hinein in die Goldene Halle. Der Thron, aus dem sich Caeseran Salazar unversehrt erhob, war heil geblieben. Der Manthor kam die Stufen herab, immer noch hämisch lächelnd. Er zog etwas aus seinem Umhang, das wie ein schwarzer Edelstein aussah. Dann rief er etwas in einer fremden Sprache und warf den Stein auf den Boden. Mit einem wummernden Geräusch riss mitten vor Salazar ein Loch auf. Es sah aus wie ein Strudel aus Schatten und Rauch, schwarz wie die Nacht. Wie ein Portal in eine fremde Welt.

»Nein!«, schrie Ivar und hastete über das Geröll hinweg.
Als er Caeseran beinahe erreicht hatte, polterte das Gestein unter ihm und er fiel. Der Gigant von Garthas erhob sich aus seinem vermeintlichen Grab. Ivar wich seiner Klaue aus und sprang zu Caeseran, doch er erreichte ihn nicht mehr. Der Manthor schritt durch das Portal und es schloss sich mit einem lauten Wummern hinter ihm. Der Gigant fiel leblos zu Boden. Was auch immer ihm Macht gespendet hatte, war nun nicht mehr in dieser Welt.

Das glänzende Kuppeldach war zerborsten, die Trümmer lagen in der Halle verteilt und das Sonnenlicht schien spöttisch auf den Thron. In der Mitte der Halle, direkt unter dem geborstenen Dach befand sich ein schwarzer Rußfleck – alles was von dem Portal und Salazar noch übrig geblieben war. Das und der schwarze Edelstein, den Ivar aufhob. Salazar war geflohen. Ria und Ivar brachten Nepherio nach draußen. Er lebte.
»Hätte mich dieses Ding nicht gegen die Wand geschleudert, wäre ich jetzt tot. Vielleicht sollte ich ihm für meine gebrochenen Rippen danken«, sagte er.

Ivar war nicht zu Scherzen aufgelegt.
»Dieser Bastard! Ein Jahr jage ich ihn schon, ein verdammtes Jahr! Und dann entkommt er mir in letzter Sekunde, dieser Feigling! Aber eines weiß ich jetzt – er ist machtlos. Er hat keine Kräfte, nur Artefakte, die ihm jemand zugesteckt hat. Ziehen wir gen Norden und töten wir seinen Sohn. Dann ist es vorbei. Aber zuerst betrauern wir unsere Toten.«
Die Maethar en Mithra und Ordensbrüder brachten den restlichen Tag damit zu, Verletzte und Tote zu bergen und die Ordnung in Rhanelle wiederherzustellen. Es herrschte eine gewaltige Empörung über die Zerstörung des Taldras in der Stadt. Aber noch gewaltiger war die Freude über das Ende der Inquisition und der Herrschaft Salazars.

Tage später machten sich Ivar und Nepherio zur Abreise bereit. Faravell stand mit einem Kopfverband vor ihm und grinste dämlich.
»Ich kann kaum glauben, dass ich dich das frage. Aber willst du nicht mit uns nach Aergard gehen?«, fragte Ivar.
»Das geht nicht. Jemand muss hier in Rhanelle für Recht und Ordnung sorgen. Aber der Orden der Roten Sonne wird dir folgen. Wie abgemacht.«
»Aber ich habe noch was gut bei dir.«
»Woher denn?«
»Ich hab deinen haarigen Arsch vor dem Giganten von Garthas gerettet, schon vergessen?«
»Stimmt. Jetzt sind wir quitt, mehr nicht«, grinste Valyr und spuckte Kautabak aus.
»Dann sorge für das Wohl der Stadt. Sorge dafür, dass nie vergessen wird, was der Orden der Roten Sonne und die Maethar en Mithra getan haben. Und seid nicht zu hart zu den Piraten. Ich habe gehört, Kore will die Magnolia übernehmen und die Sicherheit auf See sicherstellen. Mach’s gut.«
»Ich werde nie vergessen, was du für unser Land getan hast, Furchtloser. Vielleicht seid ihr Avenier gar nicht so übel.«
Ivar verließ die Stadt mit den Ordensbrüdern und den Maethar und machte sich auf in den Norden. Das Ende der Schattenwanderer war nah wie nie zuvor.

◆◆◆

Raye

Raye schritt mit Alaris an seiner Seite in die Große Halle von Aergard. Er hatte noch keinen Schritt gemacht, da sah er schon Tyr mit einer Frau an der Hand.
»Da hat es aber jemand eilig.«
Der Rhaenar wandte sich verwundert um.
»Raye!« In zwei hastigen Schritten waren die beiden Turteltauben bei ihm. »Du bist zurückgekehrt!«
»Du klingst verwundert. Ich habe Wort gehalten. Fünfhundert Soldaten meines Vaters sind an meiner Seite.«
Tyr umarmte ihn kräftig und ließ ihn gleich wieder los.
»Länger traue ich mich nicht, sonst erdolchst du mich noch. Du siehst gut aus, stark. Und mit dem Bart siehst du beinahe wie Robyn aus.«
»Du siehst müde aus, beschissen. Beinahe wie eine hässlichere Version von dir selbst.«

»Ach, wie habe ich diesen Zynismus vermisst. Ihr kommt zur rechten Zeit. Es gibt eine interessante Entdeckung in der Geisterwelt zu besprechen.«
Sie versammelten die Köpfe des Widerstandes und sie hießen Raye willkommen und dankten ihm überschwänglich. Er hörte gar nicht zu und wartete gespannt auf Tyrs Neuigkeiten. Der Rhaenar erzählte endlich von seiner Entdeckung.

»Ich weiß nicht, wie die Geisterwelt funktioniert, aber wie kommen die Deamar dorthin?«, fragte Cayn verwirrt.
»Die Geisterwelt muss eine Brücke der Welten sein. Ich vernahm dieselbe Dunkelheit, die Reznur versprüht hatte, die Kälte der Deamar. Sie haben es also irgendwie dorthin geschafft und vergiften die Welt, stören ihre Balance.«
»Aber warum? Welchen Vorteil ziehen sie daraus?«, fragte Lennard.»Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Aber ein Ungleichgewicht könnte einen Spalt öffnen und die Schatten nach Terrastras oder Eladria führen. Ich muss sie aufhalten. Sofort, bevor sie sich weiter nähren und den Umsturz herbeiführen.«
»Kommt nicht in Frage. Wenn du jetzt gehst, wirst du die Aufmerksamkeit auf dich ziehen und Naerys wird einschreiten. Du kannst dich nicht alleine gegen alle wehren«, warf Raye ein.

Sie durften nun nicht vorschnell Handeln.
»Du hast recht. Aber wie soll ich es dann anstellen?«
Alaris klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch und lächelte listig.
»Eine Ablenkung. Es muss während der Schlacht um Arbor passieren. Naerys wird zu beschäftigt sein, uns abzuwehren, um eingreifen zu können.«
»Das ist eine vage Hoffnung, auf die wir uns hier stützen.«
»Es ist die einzige Chance, die wir haben.«
»Gut, ich mache es. Sobald Ivar zurück ist, reiten wir gen die dunkle Stadt. Bringt er tatsächlich den Orden mit, haben wir an die hundert Mann mehr als Naerys. Das muss reichen. Das und eine ausgeklügelte Strategie.«
»Doch was ist mit den Deamar?«, meinte Cayn.
»Hoffen wir, dass ich sie in der Geisterwelt aufhalten kann, bevor Naerys sie herbeiruft.«
»Eine weitere vage Hoffnung«, knurrte Raye. »Wie willst du es überhaupt anstellen? Ganz allein, ohne Ahnung, was tatsächlich auf dich zukommen wird?«

»Ich werde die nächsten Tage in der Geisterwelt verbringen und soviel in Erfahrung bringen, wie möglich. Und jetzt entschuldigt mich, ich habe noch einige Baupläne mit den Handwerkermeistern zu besprechen.«
»Ich komme mit. Ich hätte da einige Ideen«, sagte Raye.
»Tatsächlich?«
»Beleidige mich nicht.«
Tyr schmunzelte und geleitete ihn in den Handwerkerbezirk, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Die Handwerker stapelten Fassdauben, die nächsten nahmen sie wieder herunter und verarbeiteten sie. Hämmer schnellten auf Stahl nieder, zwei Männer betätigten einen großen Blasebalg und andere schütteten Steinkohle in die Esse.
»Wie ist es dir ergangen? Konntest du Dea finden und deine Angelegenheiten klären?«
Raye erzählte ihm kurz, was in Aralia geschehen war und warum Dea nicht mit ihm zurückgekehrt war.
»Das sind gute Nachrichten. Das Wichtigste ist, dass sie wohlauf ist und ihr euer Kriegsbeil beigelegt habt. Wir sind stärker als je zuvor! Wie hast du es geschafft, deinen Vater zu überzeugen?«

»Robyn hat mir dabei geholfen. Ich habe seine Asche auf den Faeron getragen. Das bedeutete meinem Vater sehr viel.«
»Du hast Robyns Asche gestohlen?«, rief Tyr verwundert.
»Wir sind uns wohl beide einig, dass ich sie nicht gestohlen habe. Ich habe sie nach Hause gebracht. Ella weiß davon.«
»Ja, du hast recht. Es war richtig so. Und sehr gewieft, was deinen Vater angeht. Robyn bedeutete ihm sehr viel.«
Raye schwieg. Tyr brauchte nicht zu glauben, mehr über seine Familie zu wissen, als er.
»Ella wird in wenigen Monaten ihr Kind gebären. Sie schrieb, es werde ein Junge.«
»Robyns Erbe. Möge er genauso ehrenhaft wie sein Vater werden.«
»Werden wir sehen. Ihr habt also die Schlacht um Tariel gewonnen. Beachtlich, dafür genießt du meinen Respekt. Aber wir dürfen uns nicht ausruhen, Arbor muss fallen.«
»Auch das werden wir bewältigen. Wir sind fast da.«

Als sie die hohen Fachwerkshäuser passierten, kamen sie zu Carnavas Schreinerei. Carnavas, der Handwerksmeister, empfing Tyr sogleich überschwänglich. Für Raye hatte er keine Begrüßung übrig. Freudestrahlend wischte er sich Sägemehl aus dem Bart. Bei dem fetten Geldbeutel, den er kassieren wird, würde ich auch so blöd grinsen. Oder nein, eher nicht.
»Rhaenar Tyr! Es ist mir eine Freude. Kommt herein!«
»Seid gegrüßt, Meister. Zeigt mir doch euer neues Wunderwerk.«
»Sicher doch, kommt nur.«
Die beiden folgten dem stämmigen Mann in eine riesige Halle, in der unzählige Gerüste standen, Holzstämme lagerten und Möbel hin und hergerückt wurden. Die Schreinerei stellte anscheinend nicht nur gute Waffen her.

Carnavas zeigte ihm einige Wägen, die mit Lanzen an den Seiten gespickt waren. Tyr betrachtete sie gespannt. Erfreut lauschte er den Erklärungen des Meisters. Doch Raye langweilte sich bald. Solche Streitwägen waren nichts Neues. Er hatte sein Augen auf eine kleine Balliste gerichtet, die einen kräftigen Bolzen eingespannt hatte. Er inspizierte das verstaubte Gerät.
»Was willst du denn damit erlegen?«, fragte Tyr.
»Schattenwanderer.«
»Das rentiert sich nicht. Man braucht viel zu lange, um sie nachzuladen.«
»Stimmt, wenn man vorhat jeden einzeln zu treffen schon. Aber ich habe eine Idee.«


Vielen Dank für’s Lesen! Ich hoffe euch hat es gefallen! 🙂
Grüße,
Rayon