Leseproben Leviathan Saga

Anbei findet ihr Leseproben zu den Episoden der Leviathan Saga.

EPISODE 1:

Lange Leseprobe von Episode 1 als PDF

Leviathan – Drachenjagd

Kapitel 1 – Glühwürmchen

Riva

Riva leckte sich die köstliche Sauce von den Fingern. Zufrieden saß sie bei Tisch, ließ ihre Beine baumeln und beobachtete ihre Mutter Aravae beim Essen. Sie pickte gerade eine Kartoffel auf. Riva hatte sie selbst mit ihr angebaut. Und wie gut sie schmeckten! Rasch nahm Riva ihre Gabel und stibitzte ihrer Mama eine weg.

»Na du Diebin, du bekommst wohl nie genug«, lachte sie und streichelte ihren Kopf.

Das Mädchen kicherte zufrieden und stopfte die ganze Kartoffel in ihren Mund. Kauen war gar nicht so einfach, wenn man grinsen musste. Ihr Vater Arnas kam bei der Tür herein. Er war hochgewachsen, hatte aschblondes, kurzes Haar und war der schönste Mann, den Riva kannte. Sie hatte in ihrem sechsjährigen Leben zwar noch nicht viele kennengelernt, aber er war der Schönste, ganz bestimmt. Und nebenbei der beste Papa der Welt. Er trug seinen vornehmen Umhang und die ärmellose Weste, die Mama so kleinlich bügelte. Riva mochte das Bügeleisen nicht. Es war mechanisch, wie ein dampfender Stahldrache. Sie suchte das Weite, wenn Aravae es hervorholte. Papas Aufzug konnte nur eins bedeuten – er war früh in die Stadt gegangen. Riva war noch nie in Aridia gewesen. Sie blieb lieber in ihrem wunderbaren Zuhause in den Endlosen Wäldern Galahan. Hier gab es nur Bäume, Tiere und Abenteuer. Und manchmal sah sie eines der seltenen Geisterwesen vorbeihuschen. Doch ihr Vater hatte ihr verboten, ihnen nachzujagen. Dabei sahen sie so bunt und freundlich aus. Wie gerne wäre sie mit ihnen befreundet gewesen. Riva hatte zwar ihre tolle Mama und den noch tolleren Papa, aber manchmal fühlte sie sich ein wenig allein.

Arnas kam zu ihr herüber und hob sie hoch. Er drehte sich wie ein Kreisel und Riva flog durch die Luft. Sie lachten und drückten sich. Es war schön, wenn Papa nach Hause kam. Er war oft unterwegs, manchmal eine ganze Woche. Arnas war nämlich kein gewöhnlicher Papa, er war ein Drachenjäger. Aber Riva wusste es besser. Es waren keine Drachen, die ihr Vater jagte, sondern Geisterwesen, die man Leviathane nannte. Tief in den Bergen lebten die Geschöpfe, deren Körper wolkig und gewaltig waren. Hoch oben im Gebirge beherrschten sie die Stürme. Im Dunkel der Ozeane schlummerte das Grauen der Seefahrer – schlangenartige Wesen, die seit Jahrhunderten die Meere durchstreiften. Und zu guter Letzt gab es die Wald-Leviathane. Wie die Meeres-Leviathane hatten sie keine Flügel, aber kurze Beine und einen Drachenkopf. So schlängelten sie sich durch den Nebel und die engstehenden Bäume der uralten Wälder. Arnas erzählte nur wenig über diese Kreaturen. Er wurde böse, wenn Riva ihn danach fragte. Nur einmal hatte sie ihn dazu überreden können, ihrer Mutter einen Leviathan zu beschreiben. Sie hatte eine große Leinwand hervorgeholt und angefangen zu malen. Das Bild des Geisterwesens, mit Schuppen, zweigartigen Hörnern und Blättern auf dem Kopf lag nun gut versteckt unter Rivas Bett. Einst hing es an der Wand darüber, aber Arnas hatte es nicht geduldet und es zornig abgenommen. Nachts holte sie manchmal eine Kerze hervor und kroch darunter, um sich den mächtigen, grünen Leviathan anzusehen. Seine Augen waren schwarz und glitzerten magisch. Wie gerne wäre sie in die Wälder gelaufen wie ihr Vater, hätte die Spuren gedeutet und einen leibhaftigen Walddrachen beobachtet. Riva verstand nicht, warum ihr Vater sie jagte, sie sahen so friedlich aus. Doch Arnas meinte, dass sie viel zu riesig wären, um sie zu töten. Er lieh sich nur einige ihrer Schuppen, Krallen und Hörner. Das tat ihnen nicht weh und weil sie so viele hatten, vermissten die Leviathane sie nicht. Damit konnte Riva leben. Sie mochte es nämlich gar nicht, wenn jemand einem Tier wehtat. Das war die einzige Schwäche ihres Papas, aber er machte das nur, damit Mama und sie ein schönes Leben hatten. Sonst hätten sie in die Stadt ziehen müssen und das wäre furchtbar gewesen.

»Riva, wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken? Ich sagte, komm bitte mit nach draußen. Deine Übungen sind fällig«, forderte Arnas und ging in seine Waffenkammer.

Dort hingen unzählige Gewehre und Jagdmesser, sogar Harpunen an der Wand. Er nahm ein Gewehr herunter und überprüfte es penibel. Ein weiteres gab er Riva. Sie mochte Metall nicht, es war kalt, leblos und hässlich. Doch sie wagte nicht, zu widersprechen. Wenn Papa sie zu den Übungen mitnahm, musste sie brav sein. Die beiden gingen nach draußen hinter ihre flachgebaute Villa, vorbei an Mamas blühendem Garten. Dort hatte Arnas einen Schießstand aufgebaut, an dem er stundenlang stand und auf Blechtiere schoss. Riva verbrachte hier seit einem Jahr jeden Tag. Sie positionierte sich, wie sie es gelernt hatte, nahm das Gewehr in Anschlag und hielt den Atem an.

»Rechts oben!«, rief Arnas.

Sofort riss sie das Gewehr in die richtige Richtung und drückte den Abzug. Der Blechvogel fiel zu Boden.

»Gut gemacht«, sagte ihr Vater. »Links unten!«

Auch der Dachs segnete das Zeitliche. Wenn Riva schoss, war sie genauso mechanisch wie das Gewehr in ihren Händen. Es war seltsam – obwohl sie Metall hasste, fühlte es sich gut an, wenn sie abdrückte. Es war, als wäre die Waffe eins mit ihr, als könne sie die Kugel kontrollieren und ihren Weg in den blechernen Körper der Ziele lenken. Riva war nicht sie selbst, wenn sie ein Ziel anvisiert hatte. Sie fragte sich, ob es ihrem Vater auch so ging und ob er deshalb so ein guter Jäger war.

»Links oben!«

Kurz zuckte Riva nach links, erkannte jedoch, dass Arnas sie getäuscht hatte und visierte das Eichhörnchen rechts unten an. Sie traf es zwischen die Augen. Ihr Vater jubelte.

»Heute hast du dich selbst übertroffen, mein Sonnenschein. Morgen werden wir aus der Distanz üben, du bist so weit.«

Stolz schloss Arnas sie in die Arme und Riva grinste. Anscheinend war sie heute richtig gut gewesen, denn sonst war Papa oft streng mit ihr. Liebevoll strubbelte er durch ihr Haar und widmete sich seinen Übungen. Ihre Mutter wartete auf Riva. Sie trug ihre buntgefleckte Schürze, die sie immer zum Malen anzog. Mama war eine außergewöhnlich begabte Künstlerin. Es gab wirklich nichts, das sie nicht auf einer Leinwand festhalten konnte. Ihre Gemälde waren voller Leben und Farbenvielfalt. Stunden hatte Riva davorgestanden und die kleinen Details bewundert. Manche konnte man nicht mit dem freien Auge ausmachen. Riva stibitzte dann eine Lupe und besah sich die kleinen Spatzen und Eichhörnchen in den Bäumen der Acrylmalereien genauer.

»Heute könnte ich Hilfe gebrauchen. Willst du ein paar Kois in den Teich zaubern?«

»Au ja!«, rief Riva.

Das Mädchen schnappte sich eine Farbpalette, einen dicken Pinsel und kleckste munter los. Ihre Mama lachte und kleckste mit ihr und schon war das ganze Gemälde voller Fische, die durch den Wald schwebten.

»Beinahe wie die Leviathane«, murmelte Riva.

»Ja, da hast du recht. Nur dass sie viel ehrwürdiger und mächtiger sind.«

»Wie mächtig denn?«

»So mächtig, dass nicht einmal eine ihrer Klauen auf diese Leinwand passen würde.«

»Hat Papa gar keine Angst vor ihnen? Sagt er deshalb nie etwas darüber?«

»Nein, er hat keine Angst. Aber er sollte es haben. Es gab schon Tage, an denen Jäger umkamen. Leviathane sind zwar nicht aggressiv, doch wenn man ihnen zu nahe kommt, geschehen seltsame Dinge.«

»Was für Dinge?«, flüsterte Riva und sah sich nach Arnas um.

»Ein Sturm zieht auf, man hört unheimliche Stimmen im Wind, Schluchten und Strudel tun sich auf. Illusionen führen einen in die Irre. Das macht das Leviathanjagen gefährlich. Leute werden verrückt, verirren sich, sterben. Ein erfahrener Jäger wie dein Vater weiß die Zeichen zu deuten und folgt ihnen zu seiner Beute.«

»Was erzählst du wieder unserer Kleinen? Ich habe doch gesagt, ich will nicht, dass du ihr von den Kreaturen erzählst«, rief ihr Vater.

Aravae zuckte zusammen und stieß die Leinwand um. Das wunderbare Bild flog durch die Luft und die Farben spritzten ihnen ins Gesicht. Ihre Mutter sammelte hastig alles auf und Arnas verschwand nach draußen. Traurig hob Riva das Gemälde auf. Nichts war mehr zu sehen von den bunten Fischen und den tiefgrünen Tannen, die ihre Heimat ausmachten. Sie schluchzte und die ersten Tränen kamen. Sofort war Aravae da, um sie zu trösten.

»Sei nicht traurig, Riva. Wir malen ein neues. Und dieses wird noch farbenfroher und bezaubernder. Versprochen.«

Das Mädchen schmiegte sich an die Schulter ihrer Mutter, genoss die sanften Hände, die ihren Rücken streichelten. Schon war sie nicht mehr traurig und blinzelte ihre Mama verlegen an.

»Warum wird Papa immer so wütend, wenn man über die Wesen spricht? Das ist seine Arbeit, ich will doch wissen, was er ganz alleine draußen im Wald macht.«

Aravae sah sich um und flüsterte.

»Dein Vater hat alles übers Jagen von seiner älteren Schwester gelernt. Eines Tages folgten sie den Spuren eines Leviathans, der kurz vor dem Tod stand. Es dauert sehr lange, bis die Kreaturen soweit sind, denn die Jäger stehlen ihnen nur Schuppen und Klauen, schneiden Hörner ab oder zapfen ihnen Blut ab. Das tötet sie nicht sofort, aber wenn dies über Jahre geschieht, sind die Leviathane entkräftet und dem Tode nahe. Sie verhalten sich dann sehr eigenartig, ihre Schuppen werden stumpf und hässlich, verloren wabern sie zwischen den Bäumen umher, verworren wie ein Haufen Würmer. Erlöst sie kein Jäger, siechen sie langsam dahin und sterben. Deine Tante Varya wollte den Leviathan erlösen, um die ultimative Trophäe zu ergattern – einen Leviathan-Kopf.« Riva keuchte erschrocken auf. Wer würde so etwas Furchtbares tun? Ein armes Wesen, das niemandem etwas getan hatte und schrecklich litt auch noch jagen? Nach Erlösung klang das für Riva nicht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihre Mutter fuhr fort. »Dein Vater war damals noch in der Jägerausbildung und folgte Varya. Doch die Magie des Leviathans war mächtig, Illusionen taten sich um ihn auf, Blitze schlugen in die Erde ein. Varya hat es nicht überlebt. Seitdem hasst dein Vater die Leviathane und alle anderen Geisterwesen. Er hat seine Schwester sehr geliebt.«

Riva wusste nicht, was sie sagen sollte. Nichts davon wäre passiert, wenn sie den Leviathan in Ruhe gelassen hätten. Verständnislos zog sie den Rotz hoch, der aus ihrer Nase lief.

»Und das alles nur wegen Schuppen und Krallen? Die brauchen die Leviathane bestimmt mehr als wir.«

Aravae nickte zustimmend.

»Da hast du recht. Aber es gibt Menschen, die sich die wertvollen magischen Schuppen und Zähne gerne an die Wand hängen oder Schmuck daraus anfertigen lassen. Oder wie dein Vater, der ein Gewehr aus dem Metall der Klaue eines Leviathans besitzt. Er schwört, er habe kein besseres. Ich verstehe es auch nicht, mein Sonnenschein. Denk nicht darüber nach und erwähne es nie gegenüber deinem Vater, ja? Das würde ihn nur unnötig aufbringen.«

Riva nickte stumm. So gerne hätte sie mehr über die Geisterwesen erfahren, aber sie wollte nicht, dass ihr Papa traurig war, also schwieg sie.

◆◆◆

Kellan

Kellan entwischte um Haaresbreite einem Schlag mit dem Rohrstock, der ihm den Finger gebrochen hätte. Die alte Hexe war wieder hinter ihm her. Blutdurstig glitzerten ihre Augen unter den kohlschwarzen Brauen hervor. Die Alte quälte gerne und am liebsten ihn. Aber heute würde sie ihn nicht in die Hände bekommen. Wieder zischte der Stock an ihm vorbei. Die Aufseherin hatte keine Chance, er war zu flink. Ein selbstsicheres Grinsen huschte über sein Gesicht.

»Na warte, du ungehorsames Balg! Dein freches Grinsen werde ich dir noch herausprügeln!«

Sie stieß die Worte so zornig aus, dass Spucke durch die Luft flog. Kellan lief den langen Gang des ehemaligen Sanatoriums entlang. Wie ein Leichtathlet sprang er über jegliche Hürde hinweg, entwischte Händen, die ihn festhalten wollten, rempelte andere Waisenkinder aus dem Weg. Die alte Frau gab nicht nach. Wie ein wahrgewordener Albtraum jagte sie ihm hinterher. Der Knoten in ihrem schiefergrauen Haar löste sich und die Strähnen stoben wirr umher. Ihre Lippen bebten, die Hände zitterten vor Wut. Wie besessen stürmte sie auf ihn zu. Kellan wollte durch eine Tür in den Hof, doch Kent hielt von draußen die Türe zu. Wie sehr er diesen Jungen hasste! Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Tür, brüllte Kent an, doch der grinste nur hämisch und drückte sein ganzes Gewicht dagegen. Kellan war sich sicher, dass sich dieser Tyrann noch nie so sehr angestrengt hatte. Aber Kent ließ keine Chance aus, ihn leiden zu sehen. Außerdem war er der Komplize der Oberquälerin. Er lieferte ständig einen von ihnen zu seinem Vorteil aus.

Resigniert drehte sich Kellan um und sah der heranstürmenden Aufseherin mit Furcht entgegen. Ihr Blick ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Als sie bei ihm war, versuchte er an ihr vorbeizulaufen. Die Hexe sprang nach vorn, viel zu schnell für ihr beträchtliches Alter. Sie packte Kellan an den roten Wellen und zog ihm eins mit dem Rohrstock über den Rücken. Er jaulte wie ein Hund auf und versuchte, sich loszureißen, aber die Aufseherin hatte mehr Kraft in den knochigen Fingern, als man vermutete. Sie packte ihn am Schlafittchen und schleifte ihn den Korridor entlang. Hie und da guckten andere Waisenkinder aus ihren Zimmern, manche sahen mitleidig drein, aber die meisten lächelten grimmig. Sie wussten, was mit ihm geschehen würde. Die Aufseherin zerrte ihn bis zum Ende des Ganges, wo einer ihrer Folterknechte, wie Kellan sie nannte, wartete. Die Knechte waren der Aufseherin treu ergeben, selbst sie hatten Angst vor ihr. Ihr Wort war Gesetz und wer es missachtete, lernte die unmissverständliche Sprache der Prügel kennen. Der Aufseher schloss die dunkle Eisentüre auf und die Hexe stieß Kellan grob in den winzigen Raum. Die Tür krachte hinter ihm zu und er blieb in völliger Dunkelheit zurück. Panisch sprang er hoch, lief zur Tür und hämmerte dagegen.

»Lasst mich raus! Ich erdulde die Prügel, so viel ihr wollt! Lasst mich raus, es tut mir leid!«, heulte er.

Niemand öffnete die Tür. Kellan war völlig allein in dem dunklen, engen Raum. Sein Herz raste. Nirgendwo anders empfand er so schreckliche, atemraubende Angst wie hier. Es machte ihn wahnsinnig. Mit aller Kraft hämmerte er gegen die schwere Tür und schrie wie am Spieß. Bald verließ ihn seine Kraft. Er kauerte sich in eine Ecke und vergrub die Finger in den Wellen, zog daran, bis es schmerzte. Kellan wusste, nicht, warum er das verdient hatte. Die Aufseherin wollte ihn verprügeln, weil er am Vortag nicht rechtzeitig im Bett gewesen war. War es nicht sein gutes Recht, davonzulaufen, wenn ihm jemand wehtun wollte? Zu allem Übel musste er nun auch noch alleine hierbleiben. Er hatte da draußen zwar keine Freunde, weil er der schlaksige Eigenbrötler war, aber alles war besser als hier drin. Hier gab es nichts als Dunkelheit, die beklemmende Angst vor dem Ungewissen und den Vorstellungen von bösartigen Kreaturen, die ihm nach dem Leben trachteten. Aber tief in sich wusste Kellan, dass er sich davor fürchtete, mit seinen Gedanken alleine zu sein. Es fühlte sich an, als würde er sich selbst betrachten, als wäre er das Monster, vor dem sich alle nachts fürchteten. Kellan wusste nicht, wer das Monster war. Er wusste nicht, ob es Hände oder Klauen hatte. Hatte es Haare oder war es schuppig? Er wusste nicht einmal, ob es Einbildung oder Realität war. Aber es beobachtete ihn. Mit Augen, tief in der Dunkelheit verborgen, die so schwarz waren, dass selbst die Nacht grau dagegen erschien. Es starrte mit Geduld, es starrte mit Absicht. War es ein Mensch oder eine Bestie? Vielleicht beides, vielleicht nichts von alledem. Aber es war ein stilles Wesen, stiller als sein Herzschlag. Versteckt in Ecken, wo es nicht zurück angestarrt werden konnte, an Orten, an denen es nicht konfrontiert werden konnte. Orte, nah bei ihm. So vieles lag über das Monstrum in schleierhafter Dunkelheit, wie der, in der er sich soeben befand. Kellan schloss seine Augen, versuchte die Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen und ruhig zu atmen. Er redete sich ein, dass es bloß seine Fantasie war, die ihn an dunkle Wesen glauben ließ, doch es gelang ihm nicht. Schluchzend verbrachte er die nächsten Tage in völliger Isolation.

Die Tür öffnete sich und der Waisenjunge wollte hinausstürmen, doch er durfte sich nun keinen Fehler erlauben. Er beruhigte seinen Atem und gab sich ganz artig. Die alte Aufseherin stand überlegen in der Tür. Ihr Kopf sah aus wie ein faltiger Totenschädel aus dem ein lippenloser Mund lachte. Sie trug eine dunkle Robe, die bis zum Hals zugeknöpft war. Wie ein Soldat stand sie in der Tür, bereit ihn zu erschießen. Aber Kellan durfte endlich das Gefängnis verlassen und etwas essen. Er rannte in den Gemeinschaftsraum und stopfte Kartoffelbrei in sich hinein. Normalerweise schmeckte er grauenhaft, da er aus einer dieser Dampfmaschinen kam, die Konserven aufwärmten. Aber heute glich der Brei einem Festmahl. Kellan ignorierte, wie sehr er stank. Drei Tage in diesem Loch hinterließen seine Spuren und gut gerochen hatte er vorher schon nicht. Kent tauchte neben ihm auf. Nicht das auch noch. Wie hatte er nur glauben können, einen Moment Ruhe zu haben? Kellan ignorierte den bulligen Jugendlichen und aß weiter. Was auch immer er vor hatte, er sollte nichts von seinem Brei abbekommen.

»Na, hat dich die Alte wieder schmoren lassen? Dieses Mal war es wohl besonders böse. Hast geschrien wie ein kleines Baby. Lasst mich raus, buhu, ich nehme alles in Kauf. Ha ha. Klingt für mich nach einer Einladung«, meinte Kent und schlug seine Faust in die Hand.

Kellan sagte nichts. Er war ein Feigling und er hatte es satt, wieder verprügelt oder ausgelacht zu werden. Er wollte nur in Frieden essen.

»Ignorierst du mich etwa, Bohnenstange? Ich helf‘ dir gleich mit deinem Brei!«

Kent riss ihm den Teller aus der Hand und drückte ihn in sein Gesicht. Alle Kinder im Raum lachten. Kellan wischte sich den Kartoffelbrei aus dem tief erröteten Gesicht und rannte nach draußen in den Hof. Schluchzend kauerte er sich unter einen Apfelbaum und säuberte sich. Er hoffte, dass jemand kommen würde, um ihn zu trösten und zu umarmen, um ihm zu sagen, dass alles gut werde. Jemanden, der sich für ihn einsetzen und Kent geben würde, was er verdiente. So oft hatte er sich das gewünscht, aber gekommen war niemand. Kellan hatte gelernt, dass nur er auf sich aufpassen konnte.

Er seufzte gedehnt. Brei klebte auf seinem vergilbten Hemd. Mit dem Fleck würde er lange herumlaufen. Nicht, dass sein Hemd vorher sauber gewesen war, aber er hatte kein anderes und wurde mit seinem lotterhaften Aussehen jeden Tag daran erinnert, was er war – Abschaum. Er lebte in einem Waisenhaus, das einst ein Irrenhaus gewesen war. In Riverport, dem Randbezirk der größten Stadt, die die Welt je gesehen hatte. Zumindest erzählte man sich das. Kellan war noch nie irgendwo anders als im Waisenhaus und kleinen Teilen der Stadt gewesen. Er wusste nichts von der Welt, ja noch nicht mal von Aridia selbst. Er kannte nur Riverport, das Viertel weit draußen, wo Abschaum wie er hingehörte. Hier fanden sich die, die gesellschaftlich ausgeschlossen waren, die keiner mehr wollte. Es gab harte Arbeit für miese Löhne, es war schmutzig und am Hafen war es laut und stank. Wie viele andere, war Kellan auf den Stufen des Waisenhauses zurückgelassen worden. Er hatte keine Ahnung, wer seine Eltern waren und warum sie ihn dort abgelegt hatten. Diese Fragen hatten ihn oft gequält, aber eines Tages hatte er sich damit abgefunden, dass er im Waisenhaus bleiben würde, bis man ihn fortschickte. Niemand würde kommen, um ihn aus diesem Loch zu befreien. Das Leben im Waisenhaus war grausam. Aufgrund der recht hohen Anzahl an Kindern und den geringen Folterknechten, gab es sehr strenge Regeln. Es war genau vorgegeben, wie viel sie essen durften, was sie anziehen mussten, wann Schlafenszeit war. Wer nicht gehorchte bekam den Rohrstock der Hexe zu spüren oder wurde in die dunkle Kammer gesperrt. Es war ausweglos. Hier konnte Kellan keine Sekunde länger bleiben. Und was hatte er schon zu verlieren? Wenn er irgendwo eine Chance hatte, dann in der modernsten Stadt der Welt. Vielleicht fand er im Steamvale-Viertel bei den Tüftlern Unterschlupf? Wie gerne wäre er mit der Schwebebahn gefahren oder hätte an Dampfrobotern herumexperimentiert! Ein Gefühl der Euphorie überkam ihn und er fasste einen Entschluss. Er würde die zwölf Jahre in diesem Schutthaufen hinter sich lassen und für sich selbst sorgen. Ohne Kent und die verfluchte Hexe mit ihrem Rohrstock. Und er kannte schon den Weg hier raus.


Vielen Dank für’s Lesen! Ich hoffe euch hat es gefallen! 🙂
Grüße,
Rayon